# taz.de -- Verfahren gegen G20-Gegnerin eingestellt: Absurder Prozess
       
       > Die Beleidigung eines Polizisten fand der Göttinger Amtsrichter nicht
       > strafwürdig. Der Sohn der Angeklagten war von Beamten geschlagen worden.
       
 (IMG) Bild: Der Auslöser: Bei dieser Demonstration wurde der Sohn der Angeklagten geschlagen
       
       GÖTTINGEN taz | Eine Zuschauerin spricht aus, was vermutlich vielen
       Anwesenden im Gerichtssaal durch den Kopf geht: „Es ist grotesk, dass
       dieses Verfahren überhaupt stattfindet.“ Der Prozess vor dem Amtsgericht in
       Göttingen war in Gang gekommen, weil die angeklagte G20-Gegnerin
       Widerspruch gegen einen Strafbefehl in Höhe von 400 Euro eingelegt hatte.
       Ihr wurde vorgeworfen einen Polizisten mit den Worten „Sie sind das
       Allerletzte!“ beleidigt zu haben. 
       
       Bereits nach zwei Stunden war die Verhandlung abgeschlossen. Der Göttinger
       Amtsrichter Julian Oelschläger fasst in seinen Urteilsspruch kurz zusammen:
       „Nicht sanktionslos, aber auch nicht strafwürdig“. Das Verfahren gegen die
       61-Jährige Annette R. wurde gegen eine Erklärung ihrerseits gegenüber dem
       Beamten sowie gegen eine Geldauflage eingestellt – sie muss 200 Euro an den
       Arbeitskreis Asyl in Göttingen zahlen.
       
       Am 5. Dezember des vergangenen Jahres hatte die Polizei in Göttingen zwei
       Wohnungen mutmaßlicher Aktivisten gegen den G 20-Gipfel durchsucht,
       darunter auch das Haus, in dem R. mit ihrer Familie lebt, und dabei
       Datenträger und andere Gegenstände beschlagnahmt. Vier Tage später
       demonstrierten in der Stadt etwa 700 Menschen gegen die Razzien. Ein von
       der Kanzlei des Rechtsanwaltes Sven Adam ins Netz gestelltes [1][Video] und
       mehrere Zeugenaussagen dokumentieren, wie Polizisten an einer Sperre den
       Demo-Ordner Marian R. zusammenschlugen. Er ist der Sohn von Annette R.
       
       Auf dem zehnminütigen Film ist zu sehen, wie der junge Mann mehrere Schläge
       ins Gesicht erhält und zu Boden geht. Er wird am Kopf im Würgegriff hinter
       die Polizeikette gezogen und auf den Boden fallen gelassen. Ein Beamter
       kniet auf seinem Nacken. Marian R. ringt nach Luft, verliert zeitweise das
       Bewusstsein. „Ich war definitiv nicht aufnahmefähig und die meiste Zeit
       weggetreten“, sagte Marian R. später. „Ich konnte nur in kurzen Momenten
       die Augen aufmachen. Auch meine Hausärztin hat gesagt, das war ein
       bewusstloser Zustand.“
       
       Auf dem Boden liegend, werden seine Hände mit Kabelbindern auf dem Rücken
       fixiert. Polizisten schleifen ihn an den Armen über die Straße und legen
       ihn vor einem Polizeibus ab. „Er ist mein Sohn, er ist mein Sohn“, schreit
       die aufgebrachte Mutter. „Holt einen Arzt.“ Andere Demonstranten rufen nach
       medizinischer Hilfe. Statt in die Klinik bringen die Beamten den Ordner auf
       die Polizeiwache.
       
       Annette R. erfährt davon erst später. Als sie am Abend in Begleitung eines
       Arztes am Revier auftaucht, ist ihr verletzter Sohn bereits nach Hause
       geschickt worden. Beamte weisen die Frau vom Gelände, in diesem
       Zusammenhang sollen die beleidigenden Worte gefallen sein. „Frau R. befand
       sich in einer emotionalen Situation“, sagte ihr Anwalt Sven Adam vor
       Gericht. „Die Mutter ist erregt und darf nicht zu ihrem Sohn.“ In diesem
       Kontext sei die angeklagte Äußerung, sollte sie überhaupt so getätigt
       worden sein, doch wohl „menschlich verständlich“.
       
       ## Anzeige wegen Beleidigung
       
       Als Zeugen hatte das Gericht den Polizeibeamten Jan G. geladen. Er habe die
       ihm „vom Sehen“ bekannte Frau gebeten, das Grundstück zu verlassen, sagte
       G. aus. Er könne sich zwar nicht mehr daran erinnern, dass R. die
       betreffenden Worte „hundertprozentig so als Zitat“ benutzt habe. Sinngemäß
       aber schon: „Für mich kam es so rüber, als wäre ich gemeint.“ Er habe sich
       „sowohl selbst als auch als Polizeibeamter beleidigt gefühlt“. Am folgenden
       Tag fertigte G. seine Anzeige. Von den Ereignissen bei der Demonstration,
       über die auch bundesweit berichtet worden war, will der Beamte auch im
       Nachhinein nichts mitbekommen haben: „Ich lese keine Zeitung.“
       
       Bereits früh ließ Richter Oelschläger durchblicken, dass eine Verurteilung
       für ihn kaum in Betracht komme, eine Einstellung des Verfahrens ohne
       Auflagen aber auch nicht. Der die Anklage vertretende Rechtsreferendar
       bestand nach telefonischer Rücksprache mit seiner Behörde zunächst auf
       einer formellen Entschuldigung der Angeklagten, was sie und ihr Anwalt aber
       ablehnten.
       
       Schließlich einigten sich die Beteiligten auf eine Formulierung. „Es ging
       an dem Tag nicht um Sie persönlich“, sagte R. an G. gewandt. Das könne er
       „so annehmen“, erwiderte dieser. Und Anwalt Adam erklärte: „Wir können mit
       der Einstellung leben.“
       
       ## Große Sicherheitsvorkehrungen
       
       Das „große Fass“ wolle er dann bei anderer Gelegenheit aufmachen. Adam wird
       auch Marian R. vertreten, der wegen der Ereignisse bei der Demonstration am
       9. Dezember Beamte angezeigt hat. Dieser Prozess steht noch aus.
       
       Der Prozess am Donnerstag fand unter großem Zuschauerinteresse und ebenso
       großen Sicherheitsvorkehrungen statt. Wegen der umfassenden Kontrollen am
       Eingang des Gerichtsgebäudes und vor dem Verhandlungssaal verzögerte sich
       der Beginn. Auch Journalisten mussten ihre Taschen abgeben.
       
       Dieselbe Zuschauerin, die schon die Absurdität des Verfahrens angeprangert
       hatte und zu der Gruppe „Bürger beobachten Polizei und Justiz“ gehört,
       sagte im Anschluss, dass Staatsanwaltschaft und Gerichte eigentlich
       „Besseres zu tun“ hätten. Sie verwies auf den gewaltsamen Angriff von
       Neonazis Ende April auf zwei Göttinger Journalisten. Die Reporter waren
       durch einen Messerstich und Schläge mit einem schweren Schraubenschlüssel
       erheblich verletzt und beraubt worden. Hier hätten die Ermittlungsbehörden
       noch immer keine strafrechtlichen Schritte gegen die zwei Tatverdächtigen
       eingeleitet.
       
       1 Jun 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=cKQ6-6I1TBU
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Reimar Paul
       
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