# taz.de -- Spielfilm „Tully“: Zwei Kinder und wieder schwanger
       
       > Charlize Theron lernt in „Tully“ als Mutter dreier Kinder den Segen einer
       > Nacht-Nanny kennen. Für den Film nahm sie über 20 Kilo zu.
       
 (IMG) Bild: Charlize Theron, im Film hochschwanger mit drittem Balg
       
       Der neue Film des Regisseurs Jason Reitman hat in den USA mit seiner
       Annäherung an die psychischen Folgen des Mutterwerdens eine öffentliche
       Debatte entfacht. Charlize Theron nahm für die Hauptrolle als dreifache
       Mutter Marlo 20 Kilo zu und sprach in der Klatschpresse ihrerseits von
       Depressionen – begründet in der Karriere-Angst, die zusätzlichen Pfunde
       nicht mehr loswerden zu können.
       
       Daneben spricht ein Film natürlich für sich selbst. In „Tully“ erkundet
       Reitman einen Arbeiterhaushalt, um von der Rettung vor Kinderplage und
       Alltagstristesse in Form einer Nacht-Nanny zu erzählen: Die junge Nanny
       Tully (Mackenzie Davis) scheint zu perfekt, um wahr zu sein. Und
       Meerjungfrauen gibt es im Film anscheinend auch. Es treffen
       Fantasiegespinste auf offensichtliche Klassenfragen, während der Film
       irgendwo zwischen Therons Qualitäten als Schauspielerin, einem diffusen
       Aufklärungsanspruch und Untertönen zum Körper als Währung auf dem
       Oscar-Markt letztlich unangenehm aufstößt.
       
       Körperliche Identitätspolitik ist ja etwas Feines und hat seit der
       Nachkriegszeit zu Recht Tradition im US-Studiokino. Ikonen wie Marlon
       Brando (die Ähnlichkeit zu „Tullys“ Marlo mag begründet sein) lehnten sich
       in ihrer Arbeit gegen den klassischen Star-Appeal und gegen
       Männlichkeitsbegriffe auf und prägen damit noch immer nachdrücklich die
       Ideen zur Wertigkeit US-amerikanischer Schauspielleistungen. Neben der
       immergleichen Leinwand-Persona eines John Wayne oder jüngeren Pendants wie
       Keanu Reeves gilt seit Jahrzehnten das Method Acting, die intensive
       Verwandlung von Mimen für ihre Rollen, als handfeste Größe im Rennen um die
       Schauspiel-Oscars. Wer sich für US-Filme ordentlich verausgabt, kann auf
       Preise hoffen.
       
       Zuletzt diente Leonardo DiCaprio als dankbare Angriffsfläche, wenn es darum
       ging, derartige Routinen als Kalkül zu entlarven: Für Alejandro G.
       Iñárritus „The Revenant“ watete er bei Minusgraden durch einen gefrorenen
       Fluss, dann verspeiste der Vegetarier eine rohe Bisonleber. Die Rechnung
       ging auf, weil er ein Schema bediente. Bei der Auszeichnung extremer
       Schauspielleistungen stehen zumeist Männer im Rampenlicht.
       
       ## Theron hat ihren Körper schon öfter verformt
       
       Eines der jüngeren Gegenbeispiele lieferte Charlize Theron, die sich 2003
       für ihre Rolle als Serienmörderin bei Patty Jenkins’ „Monster“ großen
       körperlichen Veränderungen unterzog. Der Film brachte ihr eine
       Oscar-Auszeichnung als beste Hauptdarstellerin ein und markierte den
       Karrierestart der Südafrikanerin im US-Studiosystem. Für „Tully“ nahm sie
       nun ähnlich große Mühen auf sich, um sich körperlich und psychologisch mit
       einer Frau zu solidarisieren, die nach drei Schwangerschaften an den Rand
       des Nervenzusammenbruchs gerät. Und zweifelsohne wohnt ihrer Veränderung
       eine stärkere politische Qualität inne, als etwa den Figuren eines
       Christian Bale, der mit regelmäßiger Sicherheit Pfunde jongliert.
       
       Dennoch wird „Tully“ vor dem Hintergrund von Hollywood-Marketingroutinen
       einen gewissen Oscar-Beigeschmack nicht los. Therons Leistung ist verbunden
       mit der Logik eines Produktionssystems, von dem sie profitiert. Ähnlich bei
       Reitman, dessen Vater Ivan Jahrzehnte für Studios in Los Angeles filmte und
       produzierte.
       
       Dabei funktioniert die erste Hälfte von „Tully“ ganz gut. Reitman setzt
       durchaus klare Akzente und will gedankliche Konstruktionen verhandeln.
       Eingangs sitzt Marlo gemeinsam mit ihrem Sohn Jonah auf dem Bett und
       bürstet sachte seine Haut, beide sind in ein zärtliches Licht getaucht.
       Jonah reagiert mit Schreikrämpfen und Wutattacken hypersensibel auf die
       Welt. Das Bürsten wurde Marlo von einem überteuerten Arzt empfohlen, dann
       musste sie auf YouTube-Ratgeber umsteigen. Es soll Jonah helfen, seine
       innere Ruhe zu bewahren. Der Schule gegenüber gibt sich Marlo alle Mühe,
       für Jonahs besondere Weltwahrnehmung einzustehen. Und auch immer sonst,
       wenn ihn jemand als „speziell“ bezeichnet.
       
       „Speziell“, das kann vieles heißen. Zwischen der Beliebigkeit von
       Alltagspsychologie und der drastischen Geschlossenheit einer klinischen
       Diagnose verortet Reitman die Fragen seines Films. Und so prägte die
       Verhandlung psychischer Krankheitsbilder auch die Schwangerschaftsdebatte,
       die seit ersten Trailern um „Tully“ aufkam. Marlo ist Benennungen gegenüber
       skeptisch, denn ihre eigene Diagnose erdrückt sie: schwanger und Mutter von
       zwei Kindern.
       
       Anzeichen, die den meisten für Bevormundungen, blinde Euphoriebekundungen
       und geheuchelte Empathie genügen. Babys kennt ja jeder und Mütter auch. Sie
       kontert über die Sprache und verweist die Leute ziemlich rabiat in ihre
       Schranken. Ihr bleibt nichts übrig, denn an ihrer Seite steht, oder besser
       liegt, praktisch niemand: ihr Angetrauter Drew (Ron Livingston). Der darf
       im Film als sympathischer Versager umherirren und sich nach der Arbeit
       hemmungslos apathisch seinen Videospielen widmen. Interessanterweise hat
       die Kamera für ihn entsprechend wenig Aufmerksamkeit übrig. Stattdessen
       steht Therons Körperlichkeit im Zentrum des Blicks und das weckt neben der
       mitreißenden Geschichte ambivalente Gefühle.
       
       ## Wut über Normbegriffe
       
       Die Realität eines fülligen Körpers, dessen Abbildung hier als wagemutig
       vermarktet und mit der Schauspielerinnen-Depression eines Stars verzahnt
       wird, entlarvt „Tully“ immer wieder als Film, der auf seine Figuren zwar
       liebevoll und humorvoll, aber letztlich mit einer unangenehm-biederen
       Bevormundung blickt. Deren Arbeiterhaushalt, mitsamt aller denkbaren
       Klischees, wird von Marlos reichem Bruder Craig nicht minder distanziert
       beäugt, als es Reitman letztlich selbst tut. Und so kommt das lustige Spiel
       mit der Tiefkühlpizza nicht minder ungelenk daher als etwa der Umgang mit
       Sexualität. Der offensichtlich liberale Moment des Films, der den Ausbruch
       aus der Monogamie skizziert, ist nur halbgar und hat einen Haken, der alles
       wieder ins rechte Licht setzt.
       
       Tatsächlich scheint hier letztlich jeder einzelne Ausbruch der Figuren aus
       den bestehenden Verhältnissen nur deren Rückversicherung einzuleiten. Noch
       schlimmer, die Fantasie selbst muss als sachte Zuflucht eines überforderten
       Geistes taugen und darf keine Konsequenzen nach sich ziehen. Und damit
       verzahnt: Das Unbewusste, die tiefe innere Unruhe einer Frau und ihre Wut
       über die Normbegriffe des US-amerikanischen Mittelstands, sie können am
       Ende nicht konfrontiert werden, weil eine fantastische junge Retterin,
       beinahe eine aktualisierte Mary Poppins, allen Schwermut
       flapsig-liebenswert in sich aufsaugt.
       
       Marlo ist in einem Kampf mit sich selbst und muss die Versöhnung alleine
       leisten. Das Wegsortieren und Herunterschlucken ihrer tiefgreifenden
       Selbstentfremdung zum Wohle aller wird ihr als Größe angedichtet, und die
       Zweierbeziehung ganz knapp neben der Norm soll wieder einmal als Zuflucht
       herhalten: „Ich liebe uns“, sagt sich das Pärchen mit einer Geste, die nach
       Flucht ins Private schmeckt.
       
       Das ist eine Liebeserklärung an den Status quo, verbunden mit der großen,
       wirkmächtigen Enthüllung des Films, mit einer formelhaften Offenbarung,
       die nach einer effektgewaltigen Wiedergeburtsszene den gescheiterten Kampf
       einer Frau in ein magisch-verklärendes Licht rückt. Jeder Ausfall ist okay,
       so lange er ins Skript passt. Reitmans Film hat den übergriffigen
       Beigeschmack einer Bibelstunde.
       
       30 May 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dennis Vetter
       
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