# taz.de -- Widerstand in der DDR: Kirchengeschichte mit Sprengstoff
       
       > Vor 50 Jahren ließ das SED-Regime die Leipziger Universitätskirche
       > abreißen. Nikolaus Krause wollte das nicht hinnehmen. Er landete im
       > Knast.
       
 (IMG) Bild: Gewonnen: Nikolaus Krause im wiederentstandenen Kirchenschiff
       
       Leipzig taz | Am Morgen des 30. Mai 1968 ist die Leipziger Innenstadt in
       Aufruhr. Tausende stehen vor den Absperrungen, die 300 Meter um das Objekt
       am Karl-Marx-Platz aufgebaut sind. Bis zuletzt haben es viele Leipziger
       nicht für möglich gehalten, dass die Stadt ihre jahrhundertealte
       Universitätskirche, in der schon Martin Luther gepredigt hat, wirklich in
       Schutt und Asche legen würde. Doch an jenem sonnigen Donnerstag vor 50
       Jahren ist es so weit.
       
       Volkspolizisten stehen schützend vor dem abgesperrten Gelände. An Stelle
       der Paulinerkirche sollen moderne Gebäude für die Karl-Marx-Universität
       entstehen, so hat es das SED-Politbüro in Berlin beschlossen. Für ein
       Gotteshaus ist bei der „sozialistischen Neugestaltung“ des Leipziger
       Stadtzentrums kein Platz. Die „Altsubstanz“, verspricht SED-Bezirkschef
       Paul Fröhlich in der Stadtverordnetenversammlung, werde „schnell, kurz und
       schmerzlos“ beseitigt. Punkt zehn Uhr hallt das Warnsignal des
       Sprengmeisters. Einen Moment später folgt die Explosion. Als Erstes kippt
       der Dachreiter, das spitze Türmchen in der Mitte des Kirchengebäudes, zur
       Seite. Danach zerbröselt die neugotische Fassade samt ihrer filigranen
       Rosette. Dann hüllt eine Schuttwolke alles ein.
       
       Nikolaus Krause erinnert sich noch genau an den Moment, der, wie er heute
       sagt, sein Leben erschüttert hat: „Ich werde nie vergessen, wie diese
       wunderschöne Kirche in sich zusammengefallen ist“, sagt Krause und
       schüttelt den Kopf. „Es war ein Akt der Barbarei, eine Machtdemonstration
       des Staates gegenüber dem Leipziger Bürgertum. Wir konnten es nicht
       verhindern.“ 50 Jahre danach ist Nikolaus Krause wieder am Ort des
       Geschehens. Es ist ein heißer Maitag. Der 75-Jährige ist aus Dresden
       angereist, wo er als Klinikseelsorger arbeitet. Krause, ein untersetzter
       Mann mit freundlichem Gesicht, achtet nicht auf das Gewusel um ihn. Er
       schlängelt sich vorbei an hippen Rennrädern und Touristen. Vor der
       futuristischen Glasfassade der Universität Leipzig, die seit 2012 die
       Westseite des Augustusplatzes – des früheren Karl-Marx-Platzes – ziert,
       bleibt er stehen. Dann zeigt er auf die Stelle, wo die Außenwand ein
       Kirchenportal andeutet. Darüber ist eine Rosette in die Fassade
       eingearbeitet. „Hier stand der Eingang der Paulinerkirche“, sächselt
       Krause. „Und wissen Sie was: Dahinter ist der Kirchenraum tatsächlich in
       Originalgröße nachgebaut. Im Dezember wurde er eingeweiht. Das hätte ich
       nie mehr für möglich gehalten.“
       
       Dann erzählt Krause, wie aus ihm, dem Pfarrerskind aus dem Vogtland, erst
       ein Staatsfeind in der DDR und später ein Träger des Bundesverdienstkreuzes
       erster Klasse wurde. Wie er als aufmüpfiger Student zunächst in Unehren aus
       der Theologischen Fakultät entlassen wurde und nun als Ehrengast am
       Weihgottesdienst für die neue Paulinerkirche teilnehmen durfte. Wie er im
       Strafvollzug Cottbus entschied, Pfarrer in der DDR zu werden, um über die
       Sprengung der Kirche hinwegzukommen. „Dass sie heute wieder steht, bewegt
       mich schon sehr. Schließlich saß ich wegen der Paulinerkirche 20 Monate im
       Knast.“
       
       ## An Krause sollte ein Exempel statuiert werden
       
       So wie Krause erging es vielen kritischen Geistern in der DDR. Sie wurden
       bespitzelt, eingeschüchtert und aus dem Verkehr gezogen. Erst Jahrzehnte
       später sollte Krause anhand der Stasiakten rekonstruieren: An ihm sollte
       ein Exempel statuiert werden. Gleich drei Stasi-Bezirksleitungen einigten
       sich auf ein gemeinsames Vorgehen, um den Theologiestudenten der
       „staatsfeindlichen Hetze“ zu überführen. Zu diesem Zeitpunkt war die
       Paulinerkirche schon längst gesprengt. Doch die Idee des Prager Frühlings,
       einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu erschaffen, war in der DDR
       nicht vergessen. Und so liefen im August 1968 zwei höchst unterschiedliche
       Planungen parallel: die umfassende sowjetische zur Niederschlagung der
       tschechoslowakischen Reformer. Und die nicht weniger akribisch geplante der
       Stasi, um einen Rädelsführer der Leipziger Theologiestudenten mundtot zu
       machen.
       
       Zum ersten Mal war Krause der Stasi im Januar 1968 aufgefallen. Der
       Staatssekretär für Kirchenfragen warb in einem Vortrag vor Studierenden für
       die „sozialistische“ Verfassung, über die die DDR-Bürger im April abstimmen
       sollten. Krause, Sprecher der Theologiestudierenden, provozierte mit der
       Frage, warum den Arbeitern darin kein Streikrecht eingeräumt würde. Was das
       noch mit Demokratie zu tun hätte. Wie den Stasiakten zu entnehmen ist,
       wurde SED-Bezirksvorstand Fröhlich persönlich über „Student Krause“ und
       „Probleme an der Theologischen Fakultät“ unterrichtet.
       
       „Ich war schon immer ein unangepasster Geist“, sagt Krause entschuldigend
       und betritt das futuristische Uni-Gebäude. Alles ist hier in Weiß gehalten,
       die Säulen, die Laptop-Arbeitsplätze am Fenster, das Ufo-förmige Audimax
       gegenüber. Im Foyer des „Paulinums“ ist alles aufeinander abgestimmt – mit
       Ausnahme der wuchtigen Grabplatten an einer Seitenwand. Sie hingen einmal
       in der Paulinerkirche. Im neuen Raumkonzept des Rotterdamer Architekten
       Erick van Egeraat hatten sie jedoch keinen Platz. „Warten Sie erst mal, bis
       wir im Andachtsraum sind“, sagt Krause. „Das hat mit der Originalkirche
       nicht mehr viel zu tun.“ Der spätgotische Schnitzaltar und ein paar
       Epitaphien seien dort zwar ausgestellt, die barocke Kanzel fehle aber immer
       noch. Und vieles, wie die tolle Scheibe-Orgel, sei wegen der Geistlosigkeit
       der SED für immer verloren.
       
       ## Ein Brief an den Architekten und die Folgen
       
       Für Krause war die Paulinerkirche mehr als nur ein Andachtsraum. Hier hat
       er schon das Weihnachtsoratorium und die Johannespassion gesungen und seine
       Examenspredigt gehalten. Sein Großvater und sein Vater – beide Theologen an
       der Leipziger Fakultät – hatten hier bereits gepredigt. „Als sich dann das
       Gerücht verbreitete, die Kirche sollte gesprengt werden, war ich
       fassungslos.“ Krause war entschlossen, zu handeln. Seinen Kommilitonen
       schlug er vor, einen Brief an den Stadtarchitekten zu schreiben. Trotz der
       Semesterferien unterschrieben 102 der rund 150 Theologiestudenten. Ende
       März 1968, zwei Monate vor der Sprengung, brachte Krause den Brief
       persönlich zum Rathaus und hinterließ dort seine Anschrift für die Antwort.
       Sie kam nie.
       
       Wie auch in anderen Städten nahm die SED-Führung bei ihren Bauplänen keine
       Rücksicht auf historische Gebäude. In den Jahren zuvor waren in Leipzig
       schon das Bildermuseum oder das alte Gewandhaus zerstört worden. Bei der
       Unikirche kam hinzu, dass sie nicht nur ein geistlicher Ort war, sondern
       auch ein politischer. So erzählen es viele, die sich an die Zeit vor 1968
       erinnern. Hier hörte man Zitate von Schriftstellern wie George Orwell oder
       Alexander Solschenizyn, die in ihren Romanen den sowjetischen
       Totalitarismus geißelten. Auch der marxistische Philosoph Ernst Bloch, der
       mit dem SED-Regime gebrochen hatte und mittlerweile in Westdeutschland
       lebte, wurde in einer Predigt zitiert.
       
       „Dem SED-Regime war das natürlich ein Dorn im Auge“, sagt Krause und lacht.
       „Mir war klar: Für diese Kirche musst du kämpfen.“ Das habe ihm der Vater
       beigebracht. Schließlich sei der von den Nazis ins KZ gesteckt worden.
       Krause organisierte Sitzstreiks und Mahnwachen vor der Kirche. Bildete sich
       ein Grüppchen von mehr als drei Personen, kam ein Stasi-Mitarbeiter in
       Zivil und forderte sie auf, auseinanderzugehen. Wenige Schritte weiter
       kamen sie erneut zusammen. Das Spiel ging von vorn los.
       
       Dass die Staatsmacht nicht zum Spaßen aufgelegt war, haben Krause und seine
       Mitstreiter schnell merken müssen. Viele Aktive wurden zum Verhör
       mitgenommen, auch Krause. Wie ernst das werden könnte, zeigte die
       Verhaftung von zwei Kommilitonen eine Woche vor der Sprengung. Sie hatten
       Flugblätter gegen die neue Verfassung verteilt. „Heute wundert mich, dass
       sie bei mir so lange gewartet haben“, sagt Krause. Erst am 19. September –
       Krause hatte mittlerweile seine erste Stelle an der Fakultät ergattert –
       klingelten ihn zwei Beamte frühmorgens aus dem Schlaf. Im Stasi-Gefängnis
       in der Beethovenstraße, keine zehn Gehminuten zum Karl-Marx-Platz, wird dem
       frischen Absolventen dann „Ausübung staatsfeindlichen Terrors“ vorgeworfen,
       später „staatsfeindliche Hetze“ und schließlich „Staatsverleumdung“. Am 30.
       Januar 1969 wurde Nikolaus Krause zu 22 Monaten Haft verurteilt – 20 davon
       musste er absitzen.
       
       ## In der Haft folgt der Entschluss zum Bleiben in der DDR
       
       „Keine schöne Zeit“, sagt Krause rückblickend über jene Monate, die er
       überwiegend im Strafvollzug Cottbus einsaß. Doch entscheidend für seinen
       weiteren Gang: Er entschied, Pfarrer zu werden und in der DDR zu bleiben.
       Als Jugend- und Friedenspfarrer erlebte Krause die Wende in Dresden
       hautnah. Danach half er beim Aufbau eines ökumenischen Seelsorgezentrums an
       der Uniklinik Dresden.
       
       Endlich steht Nikolaus Krause in der „Aula und Universitätskirche“, wie der
       Raum offiziell heißt. Statt Kirchenbänken stehen hier Stuhlreihen, der
       Altarraum ist durch eine Glaswand vom „Saal“ getrennt, davor hängt eine
       Leinwand. Gerade ist der Vortrag „Adipositas verstehen – Wie entsteht
       starkes Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen?“ zu Ende gegangen. Die
       Hochschule, das hat Präsidentin Beate Schücking klargemacht, wünscht sich
       hier mehr akademische Vorträge – und auch die Öffnung für andere
       Religionen. Es gibt nicht wenige Unterstützer der neuen Paulinerkirche, die
       das anders sehen. Und andere, die sich am modernen Interieur stören. „Das
       sind Äußerlichkeiten“, sagt dazu Nikolaus Krause, „das Wichtigste ist, dass
       der Ort wieder eine lebendige Begegnungsstätte wird – wie vor 50 Jahren“.
       
       30 May 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ralf Pauli
       
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