# taz.de -- Debatte Kulturelle Grundwerte: Die Scheinfreiheit der Bibel
       
       > Konservative betonen gern die christlichen Wurzeln. Dabei hat sich unsere
       > Gesellschaft stark in Abgrenzung zum Christentum definiert.
       
 (IMG) Bild: Einer, der sich nur allzu gerne auf christliche Werte beruft: Ministerpräsident Markus Söder
       
       Wissen Sie, was christliche Werte sind? Können Sie welche aufzählen? Mit
       solchen Fragen kann man Politiker, die sich gerne in Sonntagsreden plakativ
       auf selbige berufen, leicht ins Schleudern bringen. Meistens hört man dann
       von Toleranz, von Menschenrechten, Demokratie und der Freiheit des
       Einzelnen.
       
       In der Tat sind dies wichtige Werte unserer Gesellschaft. Aber sind sie
       wirklich christlichen Ursprungs? Oder sind es nicht vielmehr Werte der
       Aufklärung, die, in Gegnerschaft zum Christentum, erst erstritten werden
       mussten? Beruhen die Grundwerte unserer Gesellschaft tatsächlich irgendwie
       auf religiösen Fundamenten, wie so oft behauptet wird, gerade wenn
       beabsichtigt wird, sich gegen den Islam abzugrenzen?
       
       Nehmen wir zum Beispiel die „Toleranz“, die man vielleicht als
       grundlegenden Wert bezeichnen kann, weil ohne sie eigentlich keine
       freiheitliche Gesellschaft denkbar ist. Jeder und jede ist anders und darf
       dies auch sein. Aber ist „Toleranz“ ein christlicher Wert? Sicher nicht,
       denn das Christentum ist fast über die gesamte Zeit seines Bestehens mit
       dem Gegenteil, nämlich der Intoleranz eines absoluten Wahrheitsanspruchs,
       aufgetreten.
       
       Es gab nur die eine christliche Wahrheit, und diese galt es anzuerkennen.
       Der Weg zum „Heil“ war klar vorgegeben, und nur die Gläubigen konnten der
       Hölle entgehen. Das Nichtchristliche war ein Vergehen, gegen das Staat und
       Kirche gemeinsam vorgingen.
       
       Aufruf zur Verfolgung 
       
       Besonders die Juden haben unter der Intoleranz eines rechthaberischen
       Christentums immer übel leiden müssen. Noch im 20. Jahrhundert galt
       Toleranz in kirchlichen Kreisen als höchst anrüchige Haltung, und besonders
       die katholische Kirche sah in ihr noch bis zum zweiten Vatikanischen Konzil
       in den 1960er Jahren eine Anfechtung des Teufels.
       
       Ohne den Grundwert der Toleranz können jedoch auch die Menschenrechte
       insgesamt keine sichere Grundlage haben. „Die Würde des Menschen ist
       unantastbar“, formuliert unser Grundgesetz an prominenter Stelle. Dem
       stimmen moderne Christen zwar gerne zu und meinen ähnliche Sätze bereits in
       der Bibel zu finden. Doch wo andere Menschen schon allein wegen ihres
       Glaubens verfolgt werden sollen, wozu nicht nur der Koran, sondern leider
       auch die Bibel an viel zu vielen Stellen aufruft, ist das Wort
       „Menschenwürde“ noch nicht einmal als theoretischer Anspruch, geschweige
       denn als Wirklichkeit wahrnehmbar.
       
       Ein wirklicher Freiheitsbegriff konnte so lange nicht aufkommen, wie die
       (christliche) Religion das gesellschaftliche Leben bestimmte. Denn zur
       Freiheit, also auch zur Meinungsfreiheit, gehört auch immer dazu, seine
       Meinung frei sagen zu können, also ohne negative Konsequenzen fürchten zu
       müssen. Die christliche Dogmatik aber kennt zwar die Möglichkeit einer
       Entscheidung gegen Gott, doch wer diese wirklich ergreift, fällt dem
       göttlichen Gericht anheim.
       
       Die römisch-katholische Dogmatik sieht sogar heute noch für all diejenigen,
       die den Katholizismus kennen gelernt haben, aber sich dennoch nicht zu ihm
       bekennen – was unter anderem auf alle Protestanten zutrifft –, nicht
       weniger als die ewige Folter in der Hölle vor. „Christliche Freiheit“
       reicht eben nur so weit, bis man sich „falsch“ entschieden hat.
       
       Toleranz und Freiheit mussten erkämpft werden 
       
       Christliche Freiheit ist nur eine kastrierte, eine Scheinfreiheit und damit
       letztlich nur ein anderer Begriff für Unfreiheit. Der Freiheitsbegriff
       einer modernen Gesellschaft, nämlich bürgerliche Freiheit, ist dagegen viel
       höher anzusetzen. Bürgerliche Freiheit beinhaltet nicht zuletzt auch
       Religionsfreiheit und auch die Freiheit des Einzelnen, ganz ohne Religion
       zu leben.
       
       Sich modern verstehende Christen verwechseln gerne bürgerliche und
       christliche Freiheit. Und sie versuchen ebenso gerne, [1][so wie es der
       bayerische Ministerpräsident Markus Söder gerade vorexerziert], moderne
       säkulare Werte quasi „christlich zu taufen“.
       
       Doch Toleranz und Freiheit sind eben nicht organisch aus dem Christentum
       erwachsen, sondern mussten geradezu in Gegnerschaft zum Christentum
       verwirklicht werden. Religiöse Rechthaberei und Bevormundung mussten erst
       aus Staat und Rechtsprechung verschwinden, damit Raum für wirkliche
       Gewissensfreiheit und einen Begriff von Menschenwürde geschaffen wurde, der
       diesen Namen wirklich verdient.
       
       Aus den Köpfen der Menschen musste erst das religiös-hierarchische Denken
       in den Kategorien „Obrigkeit und Untertanen“ verschwinden, damit die
       Pflanze der Demokratie und der Rechtstaatlichkeit gedeihen konnte.
       
       Obrigkeit und Untertanen 
       
       Für das Christentum war es über Jahrhunderte eine ausgemachte Sache, dass
       Gott „Obrigkeiten und Untertanen“, Herren und Sklaven selbst gewollt und
       geschaffen hat, und es mithin eine Sünde sei, sich gegen die Obrigkeit
       aufzulehnen. Hatte nicht schon der Apostel Paulus den Gläubigen im
       Römerbrief eingeschärft: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit … Denn es
       ist keine Obrigkeit ohne von Gott.“ Es waren solche fatale religiösen
       „Wahrheiten“, die die Entwicklung einer modernen Demokratie schwer
       behindert haben.
       
       Ähnlich verhält es sich mit der Gleichberechtigung der Frau, der sexuellen
       Selbstbestimmung, sowie der Forderung nach einem weltanschaulich neutralen
       Staat. Auch hier waren Kirchen, Bibel und Christentum alles andere als die
       gesellschaftlichen Speerspitzen einer Befreiung. Befreiung findet und fand
       nicht mit, sondern meist gegen die Religionen statt. Moderne Werte nimmt
       man nicht aus alten Schriften.
       
       Und wenn Markus Söder nun medienwirksam meint, ausgerechnet das Kreuz
       gehöre „zu den Grundfesten des Staates“, also zu unserer demokratischen
       Republik, dann ist dies entweder reiner Populismus oder eine für einen
       Ministerpräsidenten bemerkenswerte kulturelle Unbedarftheit.
       
       6 May 2018
       
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