# taz.de -- Staatsanwaltschaft stellt Verfahren ein: SS-Täter bleibt frei wegen Todesurteil
       
       > Ein 95-jähriger Niedersachse entgeht einem Verfahren wegen eines
       > Nazi-Massakers in Frankreich. Der Grund: Schon 1949 wurde er verurteilt.
       
 (IMG) Bild: Archiv der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg
       
       Berlin taz | Ein mutmaßlicher Nazi-Täter profitiert davon, dass er vor fast
       70 Jahren in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden ist. Obwohl er deshalb
       niemals eine Strafe antreten musste, schützt ihn die Erst-Verurteilung doch
       vor einem erneuten Prozess. Das hat die Generalstaatsanwaltschaft in Celle
       entschieden und das entsprechende Verfahren eingestellt, wie ein Sprecher
       der Behörde der taz bestätigte.
       
       In dem Fall geht es um einem 95-Jährigen Mann aus Nordstemmen in der Nähe
       von Hildesheim. Vorgeworfen wurde ihm die Beteiligung an einem Massaker der
       12. SS-Panzerdivision „Hitlerjugend“ im französischen Ascq nahe der
       Großstadt Lille.
       
       In der Nacht von 1. auf den 2. April 1944 sollte die Division mit der
       Eisenbahn von Belgien in die Normandie verlegt werden – die Deutschen
       fürchteten eine Invasion der Alliierten über den Kanal. Doch in der Nähe
       des Dorfs Ascy kam es zu einer Explosion, ausgelöst durch
       Widerstandskämpfer. Zwei Waggons wurden aus den Schienen gehoben, es gab
       aber keine Verletzten. Der Kommandeur des Transports, SS-Obersturmführer
       Walter Hauck, ordnete dennoch an, alle Männer des Dorfes festzunehmen.
       
       16 Menschen wurden schon während der Hausdurchsuchungen ermordet. Weitere
       70, die die SS dazu gezwungen hatte, entlang der Bahngleise zu gehen,
       wurden dort erschossen. Das älteste Opfer war 75 Jahre alt. „Die Deutschen
       haben ihn aus dem Bett gezerrt“, berichtete Jahrzehnte später seine Enkelin
       Béatrice Delezenne.
       
       ## Todesurteil in Abwesenheit
       
       Das Verbrechen von Ascq ähnelt dem Massaker von Oradour, ist aber
       wesentlich weniger bekannt.
       
       Schon 1949 wurden 16 beschuldigte SS-Männer vor einem französischen Gericht
       in Lille angeklagt, neun von ihnen erschienen zum Prozess. Das Verfahren
       endete mit der Verkündung der Todesstrafe – doch die Urteile wurde nie
       vollstreckt sondern in Haftstrafen umgewandelt, die Täter später begnadigt.
       Sieben der Verurteilten konnten gar nicht belangt werden, weil das
       Verfahren in ihrer Abwesenheit stattfand.
       
       Einer dieser sieben war der heute 95-Jährige Renter aus Nordstemmen. Das
       Verbrechen geriet in Vergessenheit, und mit ihm auch der SS-Mann. Erst im
       Jahr 2013 begann die Dortmunder Zentralstelle für die Bearbeitung von
       nationalsozialistischen Massenverbrechen auf Initiative des Urenkels eines
       Ermordeten mit Ermittlungen gegen noch lebende Täter. Oberstaatsanwalt
       Andreas Brendel fand drei von ihnen. 2016 erfolgten Hausdurchsuchungen bei
       den Verdächtigen. Im Oktober 2017 eröffnete die Generalstaatsanwaltschaft
       Celle ein Verfahren gegen den Mann aus Nordstemmen.
       
       ## Staatsanwalt ist unzufrieden
       
       Brendel sagte der taz, einer der drei Beschuldigten sei zwischenzeitlich
       verstorben, ein zweiter vermutlich verhandlungsunfähig. Die Einstellung des
       Verfahrens gegen den 95-Jährigen Renter durch die Generalstaatsanwaltschaft
       in Celle nannte er gegenüber der taz eine „unbefriedigende Lösung“.
       
       Ein Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft Celle sagte der taz, man habe
       sich streng an Recht und Gesetz gehalten. Niemand dürfe wegen derselben Tat
       zweimal bestraft werden. Dieser Grundsatz gelte auch dann, „wenn ein
       Beschuldigter in Frankreich verurteilt worden ist und dieses Urteil nach
       dem Recht des Urteilstaates, also dem französischen Recht, nicht mehr
       vollstreckt werden kann“, heißt es in einer Pressemitteilung der
       Generalstaatsanwaltschaft. Das französische Justizministerium habe
       mitgeteilt, dass eine Strafe wegen eines solchen Verbrechens nach 20 Jahre
       verjähre. Das gelte auch für ein Abwesenheitsurteil.
       
       Das Urteil aus dem Jahr 1949 erging wegen Kriegsverbrechen. Hätte das
       Gericht den Beschuldigten damals wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit
       verurteilt, hätte man weiter gegen ihn vorgehen können – denn dieses Delikt
       verjährt in Frankreich nicht.
       
       So profitiert der Rentner aus Nordstemmen von seinem eigenen, nicht
       vollstreckten Todesurteil. Er ist damit jeder Bestrafung entgangen. Gegen
       die Einstellung des Verfahrens sind Rechtsmittel von unmittelbar
       Beteiligten möglich, auch von Kindern der Ermordeten. Das aber scheint
       unwahrscheinlich. Der Kölner Jurist Andrej Umansky unterstützt zwölf Kinder
       von Opfern. Zur Einstellung des Verfahrens sagte er der Hannoverschen
       Allgemeinen Zeitung: „Angesichts der Stellungnahme aus Frankreich blieb der
       Behörde wohl keine Wahl.“
       
       29 Mar 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Hillenbrand
       
       ## TAGS
       
 (DIR) SS
 (DIR) Kriegsverbrechen
 (DIR) Nazis
 (DIR) Schwerpunkt Frankreich
 (DIR) Ermittlungsverfahren
 (DIR) NS-Straftäter
 (DIR) Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
 (DIR) NS-Straftäter
 (DIR) NPD
 (DIR) NS-Straftäter
 (DIR) Konzentrationslager
 (DIR) Auschwitz
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Medizinhistorikerin über Nazi-Ärzte: „Den Opfern ihre Identität geben“
       
       Lea Münch über NS-Verbrechen an der „Reichsuniversität Straßburg“ und die
       Bedeutung historischer Erkenntnis für heute.
       
 (DIR) Gedenken zum D-Day: Die Front als Touristenmagnet
       
       Vor 75 Jahren landeten die Westalliierten in Frankreich. Zeitzeugen gibt es
       kaum noch, doch die Menschen halten die Erinnerung an den D-Day wach.
       
 (DIR) Jurist Jens Rommel über NS-Prozesse: „Hinter jeder Zahl steht ein Mensch“
       
       Jens Rommel von der Zentralen Stelle für die Verfolgung von NS-Verbrechen
       über das Problem des zunehmenden zeitlichen Abstands.
       
 (DIR) Nach Überfall auf „Kameraden“: Nazis setzen Kopfgeld aus
       
       Der früheren SS-Mann Karl Münter wurde in seiner Wohnung überfallen. Nun
       lobt die rechtsextreme Szene eine Belohnung für Hinweise auf die Täter aus.
       
 (DIR) Keine Gnade mehr für Oskar Gröning: Ex-SS-Mann ist gestorben
       
       Für seine Taten in Auschwitz wurde Oskar Gröning zu vier Jahren Haft
       verurteilt. Bevor über ein Gnadengesuch entschieden werden konnte, starb
       der 96-Jährige.
       
 (DIR) Verfolgung von Nazi-Verbrechen: Auch im hohen Alter verantwortlich
       
       Knapp ein Dutzend Fälle von Männern und Frauen, die in KZs und
       Vernichtungslagern dienten, werden jetzt an Staatsanwälte übergeben.
       
 (DIR) Auschwitz-Prozess in Neubrandenburg: Einstellung wegen Demenz beantragt
       
       Das Verfahren gegen einen 96-jähriger SS-Sanitäter endet nach anderthalb
       Jahren. Der Angeklagte sei nicht mehr in der Lage der Verhandlung zu
       folgen.