# taz.de -- Debatte Zukunft der Arbeit: Das Lebenselixier des Kapitalismus
       
       > Ehrenamtliche Arbeit ist nicht die schöne neue Welt des Miteinanders.
       > Engagierte übernehmen notwendige Aufgaben, der Staat spart Geld.
       
 (IMG) Bild: Ohne ehrenamtliche Mitarbeit geht es meistens nicht: Sprachlernklasse der Hauptschule Peter Ustinov in Hannover
       
       Helfen hat Konjunktur. Ehrenamtliche verteilen Lebensmittel, organisieren
       Rechtsberatung für Geflüchtete, engagieren sich in der Pflege und kümmern
       sich um benachteiligte Familien. „Du bist unersetzlich!“ heißt die neue
       Kampagne des für das Ehrenamt zuständigen Ministeriums, das uns ermöglicht,
       endlich per Mausklick mal so richtig „Danke“ zu sagen. Danke dafür, dass
       Engagierte existenziell notwendige Aufgaben übernehmen, die sich eines der
       wohlhabendsten Länder lieber nichts kosten lassen möchte.
       
       Ehrenamtliche Hilfe hat den Nimbus eines frisch gebackenen Apfelkuchens –
       alle mögen es, so wunderbar günstig, freiwillig und gemeinsinnig. In der
       öffentlichen Debatte über die Flüchtlingshilfe und die Politik der Essener
       Tafel hat dieses Bild erste Risse bekommen. Es ist höchste Zeit, den Blick
       auf die Fallstricke und die politische Ökonomie des Helfens zu richten.
       
       Seit Ende der 1990er Jahre beobachten wir einen Umbau des Sozialstaats, bei
       dem es nicht nur um Kosteneinsparungen, sondern um den ideologisch
       motivierten Übergang von der staatlichen Versorgung zur staatlich
       angeleiteten Selbstsorge geht. Wir erleben die Umdeutung der sozialen Frage
       zu einer Frage der fürsorglichen Gemeinschaft, die – weil es weniger
       altertümlich klingt – als Caring Community Karriere macht. Der Wandel der
       Sozialpolitik ist aber nicht allein dafür verantwortlich, dass private
       Hilfe an Bedeutung gewinnt: In Zeiten, da immer weniger Frauen ganztägig
       und unbezahlt als Ressource der Sozialpolitik zur Verfügung stehen, da
       Geflüchtete auf Unterstützung angewiesen sind und die Zahl der
       Pflegebedürftigen in die Höhe schnellt – in diesen Zeiten ist die Nachfrage
       nach freiwilliger Hilfe besonders groß.
       
       Der Staat übernimmt aktiv die Regie der Freiwilligengesellschaft, ruft den
       Bundesfreiwilligendienst ins Leben, verabschiedet ein
       Ehrenamtsstärkungsgesetz und setzt in der Pflegepolitik auf ehrenamtliche
       Hilfe. CDU, CSU und SPD haben sich im Koalitionsvertrag der Förderung des
       Engagements verschrieben, wünschen sich im ländlichen Raum Bürgerbusse
       statt öffentlichem Nahverkehr und streben eine Engagement-Erziehung an
       Schulen an.
       
       ## Unbezahlte Sorgearbeit
       
       Anders als im Neoliberalismus à la Reagan und Thatcher, der nur das
       Individuum und seine Familie kannte („There is no such thing as
       society.“), entsteht ein Community-Kapitalismus, der die „Ressource
       Gemeinschaft“ ausbeutet und das Potenzial von Nachbarschaften, Gemeinden
       und Freiwilligen entdeckt. Das Interesse an dieser Ressource ist mehr als
       eine politische Laune: Feministische AutorInnen weisen seit Langem auf die
       fundamentale Bedeutung unbezahlter Sorgearbeit im Kapitalismus hin, der als
       reine Marktwirtschaft nicht überlebensfähig ist. Im Zeitalter der
       Post-Hausfrau richtet sich der spähende Blick auf neue Akteure, die die
       Sorgelücken in der Kinderbetreuung, Bildung und Pflege schließen sollen.
       
       Besonders beliebt: fitte RuheständlerInnen, die ihre freie Zeit nicht auf
       Reisen, sondern als Grüne Dame im Krankenhaus oder als Nachmittagsbetreuung
       in der Ganztagsschule verbringen. Aber auch Langzeitarbeitslose rücken ins
       Blickfeld: In der SPD wird die Idee eines „solidarischen Grundeinkommens“
       ventiliert, das diejenigen erhalten sollen, die im ALG-II-Bezug
       gemeinnützigen Tätigkeiten nachgehen. Faktisch ist dies ein Vorschlag zur
       Etablierung einer staatlich subventionierten Schatten-Hilfeökonomie.
       
       Anders als der radikale Neoliberalismus ist der Community-Kapitalismus für
       unterschiedlichste Akteure attraktiv – und womöglich gerade deshalb
       erfolgreich: Nicht nur Regierungen und politische Parteien pushen die
       Ressource Gemeinschaft, auch für Wohlfahrtsverbände, Kirchengemeinden und
       alternative, kapitalismuskritische Bewegungen ist etwas dabei. Caring
       Communities sind aber keine schöne neue Welt des Miteinanders jenseits des
       Kapitalismus, sondern sein kostengünstiges Lebenselixier.
       
       Die Caritas Deutschland bringt es unverhohlen auf den Punkt:
       „Bürgerschaftliches Engagement ist systemrelevant, nachhaltig und erbringt
       eine ausgezeichnete Rendite – ohne Risiko. Ein klare Kaufempfehlung.“ Was
       auf den ersten Blick so begrüßenswert klingt, basiert auf dem Abbau
       sozialer Rechte, der Ausbeutung unbezahlter Arbeit und belebt Formen
       karitativen Helfens, die durch persönliche Abhängigkeit, Ungewissheit und
       Hierarchien zwischen vermeintlich Wohltätigen und Hilfsbedürftigen geprägt
       sind.
       
       ## Abbau des Sozialstaates
       
       Der politische Diskurs kennt nur eine Problematisierung von Engagement –
       die Überforderung der Engagierten, die gerade in der Flüchtlingsdebatte
       gerne als Beleg für die vermeintlich erreichte Grenze der Belastbarkeit
       instrumentalisiert wird. Geldwerte Aufwandsentschädigungen und
       Qualifizierungsangebote für Engagierte sind politische Antworten auf die
       diagnostizierte Überforderung. Beides ist ein zweischneidiges Schwert: Das
       Ehrenamt wird mancherorts zum Vehikel für informelle Tätigkeiten im
       Graubereich zwischen Erwerbsarbeit und Engagement, in dem arbeits- und
       tarifrechtliche Standards nicht gelten und Freiwillige ohne Ausbildung
       quasiprofessionelle Aufgaben erfüllen. Die strukturell überforderte Hilfe
       ist dabei nicht nur eine staatlicherseits ausgebeutete Hilfe, sie ist immer
       häufiger auch eine prekäre Hilfe, die mit niedrigen Aufwandsentschädigungen
       für Langzeitarbeitslose und arme RuheständlerInnen das Überleben sichert.
       
       Ohnmächtig ist die engagierte Hilfe aber nicht. Die Abwehr der
       Überforderung kann exkludierende Formen annehmen, wie im Fall der Essener
       Tafel, die zwischenzeitlich die Bedürftigkeit über den deutschen Pass
       bestimmte. Vielversprechend hingegen ist das rebellische Engagement:
       Rebellisches Engagement hilft, springt ein, schließt Versorgungslücken,
       aber es nutzt das Engagement politisch, um ebendiesen Umstand zu
       skandalisieren. „Es ist uns keine Ehre!“ proklamieren zum Beispiel die
       Medibüros, die ehrenamtlich medizinische Versorgung für Geflüchtete
       organisieren. Sie helfen und sie kämpfen zugleich. Für eine solidarische
       Gesundheitsversorgung für alle.
       
       17 Apr 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Silke van Dyk
       
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