# taz.de -- Arno Geigers „Unter der Drachenwand“: Wie allein kann man sein?
       
       > Die Erlebnisse des Krieges sind in den Körpern gespeichert: Arno Geigers
       > neuer Roman ist ein Glanzstück der Gegenwartsliteratur.
       
 (IMG) Bild: Unterhalb einer 700 Meter steil aufragenden Drachenwand gelegen: der Mondsee
       
       Es gibt in diesem Roman eine Schwester, Hilde, die lange vor Einsetzen der
       Handlung gestorben ist und ihrem Bruder, der Hauptfigur, immer wieder im
       Kopf herumgeht. Es gibt Klopfzeichen, die sich zwei verliebte Jugendliche
       durch die Wand schicken, von Wohnung zu Wohnung, und die irgendwann nicht
       mehr beantwortet werden. Es gibt herzzerreißende Briefe, die keinen
       Adressaten mehr finden können; nichts ist trauriger.
       
       Der Krieg ist neben allem, was er sonst ist (eine Tötungs- und
       Mobilisierungsmaschine), auch ein gestörter Kommunikationszusammenhang. Mit
       Ängsten und realen Schrecken haben die Figuren in Arno Geigers Roman „Unter
       der Drachenwand“ zu tun – und genauso mit emotionalen Leerstellen und
       abwesenden nahen Menschen. Dass man im Jahr 1944, in dem das Buch spielt,
       den Phrasen und Parolen nicht (mehr) glaubt, ist das eine. Das andere aber
       ist, wie allein und verloren man mit seinen Gefühlen und Erfahrungen sein
       kann.
       
       Diese Verlorenheit könnte ein sentimentales Motiv sein, ist es aber nicht
       in diesem menschlich wie literarisch reichen, erst fast spröde und eng
       wirkenden, sich allmählich aber immer mehr weitenden, Vorgeschichten
       einholenden und zu einem komplexen Panorama entfaltenden Roman. Es ist
       vielmehr überaus erstaunlich, wie tief an psychisch wunde Punkte Arno
       Geiger in diesem Buch rührt.
       
       Vor über zehn Jahren, so erzählt er es, ist der österreichische
       Schriftsteller („Es geht uns gut“, „Alles über Sally“, „Der alte König in
       seinem Exil“) auf einem Flohmarkt auf ein Konvolut von Briefen gestoßen,
       geschrieben von Mädchen, die zum Ende des Zweiten Weltkriegs aus Wien aufs
       Land geschickt worden sind, möglichst weit weg von den Bomben, in ein Heim
       in Schwarzindien am österreichischen Mondsee, unterhalb der 700 Meter steil
       aufragenden Drachenwand gelegen, die beständig einen gewaltigen Schatten
       wirft (den man auf Google Maps sehen kann, wenn man in die
       Satellitenansicht wechselt).
       
       Inhaltlich haben die Briefe kaum in den Roman gefunden. Aber sie haben
       etwas ausgelöst. Das Briefschreiben im Schatten des Krieges (so gewaltig
       wie der der Drachenwand), in einem Idyll, über das doch täglich die
       alliierten Bomberflotten fliegen, in dem es die Vertreter des Naziregimes
       gibt und in dem Kriegserfahrungen verarbeitet werden müssen, auch die
       Gesellschaft in so einer Kleinstadt (Polizist, Gärtner, Lehrerin,
       Quartiersfrau) und auch der reine Klang dieser Namen: Schwarzindien,
       Mondsee, Drachenwand – in diesem Hallraum ist der Roman entstanden.
       
       ## Gänzlich ohne Nazisprache
       
       Zusammengehalten wird er von der Geschichte des desillusionierten Soldaten
       Veit Kolbe, dem sein eigener Vater sagte, er solle stolz darauf sein, sich
       in so großer Zeit „bewähren“ zu können. Er wurde schwer verwundet, und bis
       er wieder „frontfähig“ ist, ist er auf Genesungsurlaub am Mondsee. Die
       äußeren Wunden heilen, von Traumaforschung aber hat er noch nichts gehört.
       Wie könnte er auch. Wie man den Krieg psychisch durchsteht, das galt als
       Charakterfrage, sich von seinen Schrecken übermannen zu lassen, als
       unmännlich. Und so berichtet sich dieser anfangs 23-Jährige selbst in
       Tagebuchaufzeichnungen ganz unpsychologisch und hilflos von seinen
       Erlebnissen und Traumatisierungen.
       
       „In Charkow, wo wir alles zerbombt, umgepflügt, zerschossen und
       totgeschlagen hatten …“ – „… dass ich alles gesehen hatte, was niemand
       sehen will. Wenn ein Dorf im Weg gestanden sei, hätten wir es einfach
       weggewischt mit Jung und Alt.“ Solche Sätze stehen inmitten von
       Schilderungen täglicher Verrichtungen. „… es war, als sei alles in meinem
       Körper gespeichert, als gebe es Dinge, von denen man sich nie ganz erholt,
       selbst wenn man wieder zum Alltag zurückgekehrt scheint.“
       
       Veit Kolbe ist über weite Strecken der Ich-Erzähler dieses Buches. Doch das
       ist hier keineswegs reine Rollenprosa. Arno Geiger geht es um Empathie,
       aber nicht darum, eins zu eins ein historisches Bewusstsein zu
       rekonstruieren. Der Ich-Erzähler ist um einiges kunstvoller konstruiert,
       als man beim Lesen zunächst meint, und der Blick von der Gegenwart aus ist
       dezent, aber deutlich in die Sprache eingeschrieben. So gibt es
       Schrägstriche, die den Text strukturieren und wie ein leiser
       Verfremdungseffekt wirken. Statt vom „Führer“ oder von Hitler liest man nur
       von „dem F.“ oder von „H.“. Arno Geiger hat keine Nazisprache in das Buch
       übernommen, als wollte er ihr die Ehre nicht antun, es geht auch ohne.
       
       ## Die Macht, die Abwesende haben können
       
       Einmal ist von der harten „Kriegshaut“ die Rede, die Veit Kolbe erst
       verlieren muss. Arno Geiger schreibt ohne eine solche Kriegshaut. Manchmal
       stockt einem beim Lesen auch der Atem, so nah kommt man beim Lesen an die
       Figuren. Briefe, die authentisch sein könnten, aber doch literarisch
       entworfen sind, erweitern und akzentuieren Veit Kolbes Bericht. So gehören
       die Briefe, die der jüdische Zahntechniker Oskar Meyer auf seiner Flucht
       schreibt, zu den Glanzstücken dieses Buches. Von Frau und Sohn wird er
       getrennt. Immer auswegloser wird seine Lage. Ganz allein ist er
       schließlich. Und es ist ein Kunstwerk für sich, wie Arno Geiger der Sprache
       dieser Briefe allmählich die Hoffnung entzieht, bis nur noch ein stumpfes
       Grau übrigbleibt.
       
       In einem harten Kontrast wird gleich im nächsten Kapitel durch eine andere
       Briefschreiberin von der Bombardierung Darmstadts berichtet, ohne dass hier
       irgend etwas relativiert oder gegeneinander aufgerechnet würde. Wann Arno
       Geiger solche harten Schnitte setzt und wann er die Tage verschleift, um
       die nicht aufhörende Angst, aber auch die genauso hartnäckige Sehnsucht
       nach Normalität auszudrücken, das spricht für ein hohes Formsensorium und
       Sprachsensibilität.
       
       Allmählich entwickelt sich auch eine Liebesgeschichte, die ein großer
       Kitsch hätte werden können, bei Arno Geiger aber etwas Schlichtes und
       Selbstverständliches bekommt. „Und ich weiß, es sind schon ereignisreichere
       Geschichten von der Liebe erzählt worden, und doch bestehe ich darauf, dass
       meine Geschichte eine der schönsten ist“, schreibt Veit Kolbe. Und zugleich
       sind hier die fünfziger Jahre in dem Roman, als die Menschen sich in die
       Kleinfamilien wie in ein Schneckenhaus zurückzogen.
       
       „Unter der Drachenwand“ ist ein Roman über die Macht, die Abwesende haben
       können, und über menschliche Verhaltensweisen und psychische
       Überlebenstechniken in schrecklichen Zeiten. Und es ist ein Buch, das
       glaubwürdig behauptet, dass man literarisch über die Zeiten und die
       geänderten Umstände hinweg mit den Schicksalen der Menschen verbunden sein
       kann. Genau deshalb ist es nicht nur ein historischer Roman, sondern auch
       einer über die Gegenwart. Man kann auch Folgendes sagen: Gegen dieses Buch
       sehen viele andere Bücher zurzeit ausgedacht und gewollt aus.
       
       16 Mar 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dirk Knipphals
       
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