# taz.de -- Hilfe bei sexuellen Übergriffen in Ägypten: Die App, mein Freund und Helfer
       
       > Kairo gilt als weltweit gefährlichste Metropole für Frauen. Eine junge
       > Ägypterin hat eine App erfunden, um bei sexuellen Übergriffen zu helfen.
       
 (IMG) Bild: Demonstration auf Tahrir-Platz in Kairo, wo es 2011 zu Gruppenvergewaltigungen kam
       
       Kairo taz | Es klingelt einmal, zweimal, dreimal. Shadw Helal zieht sich
       das Kissen über den Kopf. Es ist einer der wenigen Tage, an denen die
       Studentin etwas länger schlafen kann. Nach dem vierten Klingeln ringt sie
       sich dazu durch, den Hörer abzunehmen. „Du musst mir helfen Shadw, ich
       werde von vier Männern verfolgt!“, ertönt es am anderen Ende der Leitung.
       Helal ist jetzt hellwach. Doch helfen kann sie nicht. Ihre beste Freundin
       ist auf der anderen Seite der Stadt, sie muss rennen, um sich in Sicherheit
       zu bringen.
       
       „Nie zuvor habe ich eine solche Machtlosigkeit gespürt“, sagt Shadw Helal
       heute, ein Jahr nach dem Anruf. Sie hat einen der begehrten Plätze in der
       oberen Etage eines Cafés ergattert und einen grünen Tee bestellt. Sie
       bewertet noch schnell ihre zurückliegende Fahrt mit dem in Kairo beliebten
       Fahrdienst Uber. Es läuft Jazzmusik, junge Menschen trinken Chai Latte oder
       Cappuccino und stöpseln ihre Smartphones in die an den Tischen angebrachten
       Ladestationen.
       
       Shadw Helal ist 22 Jahre alt, studiert in Kairo an der zweitgrößten
       Universität Afrikas Medizin und hatte bis vor Kurzem mehr mit dem Schreiben
       von Poesie als mit Feminismus und Digitalisierung zu tun. Ihr streng
       gebundenes Kopftuch lässt keinen Haaransatz erkennen. Über ihre Hand zieht
       sich eine kleine Tätowierung.
       
       Ihre Freundin hatte Glück vor einem Jahr, sie konnte den Verfolgern
       entkommen. Vielen anderen gelingt das nicht. Kairo gilt als die für Frauen
       gefährlichste Metropole der Welt. Nach einer im Oktober 2017
       veröffentlichten Umfrage der Thomson Reuters Foundation ist die Hauptstadt
       Ägyptens knapp gefolgt von Karatschi in Pakistan und Kinshasa im Kongo der
       Ort, an dem Frauen besonders schlecht vor sexuellen Übergriffen geschützt
       sind. In einer UN-Umfrage gaben 99,3 Prozent der ägyptischen Frauen an,
       bereits belästigt oder begrapscht worden zu sein.
       
       ## Lebensalltag in ständiger Bedrohung
       
       „Dass meine Heimatstadt ein gefährliches Pflaster für Frauen ist, war mir
       schon immer bewusst“, sagt Helal. Seit vielen Jahren fährt sie kaum noch
       Bus, geht selten nach Sonnenuntergang in die Stadt und meidet
       Großveranstaltungen. Wie viele andere Frauen hat sie ihren Lebensalltag der
       ständigen Bedrohung angepasst. Fast schon intuitiv, über die Ursachen hat
       sie sich lange gar keine Gedanken gemacht. Der Hilferuf ihrer Freundin
       wirkte wie ein doppelter Weckruf.
       
       Die Polizei sei zu langsam, die Einsatzkräfte würden oft erst eintreffen,
       wenn die Täter schon geflüchtet seien, berichtet Helal. Nur selten würden
       die im Belästigungsparagrafen 306 genannten Haftstrafen tatsächlich
       verhängt. Weil sie sich nicht auf die Behörden verlassen will, beschloss
       sie, selbst aktiv zu werden. „Wir brauchen ein stadtweites Netzwerk aus
       Zeugen und schnellen Helfern“, sagt Helal. Für die Studentin war deshalb
       klar: Nur eine App kann das leisten. Wir bestellen uns in Sekundenschnelle
       Fahrer, Pizzalieferanten oder Postboten, warum soll das nicht auch mit
       Helfern in der Not möglich sein?
       
       Wenige Fußminuten vom Café entfernt befindet sich der Tahrir-Platz, der
       während des Arabischen Frühlings weltweite Bekanntheit erlangte. Dort waren
       am 25. Januar 2011 hunderttausende Demonstranten zum „Tag des Zorns“
       zusammengekommen. Sie gaben der Arabellion ein Gesicht und führten den
       Sturz des damaligen Präsidenten Husni Mubarak herbei. Der tiefgreifende
       Wandel des Landes scheiterte jedoch, 2013 kam es zum Militärputsch.
       
       Der Tahrir-Platz, heute kontrolliert von schwerbewaffneten Soldaten, ist
       nicht nur Sinnbild des Aufstands, sondern steht auch für Gewalt gegen
       Frauen: Immer wieder kam es dort zu Übergriffen, sogar zu
       Gruppenvergewaltigungen. Unter den Opfern der Proteste befand sich Lara
       Logan, Reporterin des amerikanischen Senders CBS. 25 Minuten lang wurde sie
       von einem Mob aus Demonstranten vergewaltigt.
       
       „Was damals an einem Ort konzentriert geschah, erleben wir in unserer
       Gesellschaft täglich immer wieder“, sagt Shadw Helal. Wenn sie über die
       Gewalt gegen Frauen spricht, wird die sonst ruhige Ägypterin laut, formt
       ihre Hand zu einer Faust, nur um sie dann aus Rücksicht auf die anderen
       Cafébesucher sanft auf den Tisch zu legen.
       
       Mit ähnlichen Worten überzeugte Shadw Helal einen befreundeten
       Informatikstudenten. Gemeinsam mit einer Designstudentin machten sie sich
       an die Arbeit. Nach monatelanger Detailarbeit, Ausgaben von knapp 80.000
       ägyptischen Pfund – etwa 3.700 Euro – und unzähligen Testläufen wurde aus
       der Idee eine funktionsfähige App namens „Rescue“.
       
       ## Notruf mit einem Klick
       
       Die funktioniert so: Jede Frau, die sich die kostenlose App auf ihr
       Smartphone geladen hat, kann in einer Bedrohungslage mit einem Klick einen
       Notruf entsenden. Ist für den Klick keine Zeit, reicht auch das laute
       Ausrufen von „Rescue“. Die Sprachsteuerung erkennt den Hilferuf und
       aktiviert das Netzwerk. Dieser wird nicht nur an die von ihr vorher
       bestimmten Freunde und Familienangehörigen verschickt, sondern an alle als
       Helfer registrierten Menschen in einem Umkreis von zwei Kilometern. Per GPS
       wird der Standort der bedrohten Frau ermittelt und erscheint innerhalb von
       Sekunden auf den Displays. Dazu ein Profilfoto und Anweisungen, wie man am
       besten aushelfen kann.
       
       Wurde ein Hilferuf gesendet, können die Frauen und Helfer nach dem Vorfall
       eine Bewertung abgeben. Mit dieser Funktion wollen die Macher absichtlichen
       Fehlalarmen vorbeugen. Zudem müssen alle User ihr Profil mit ihrem Ausweis
       verifizieren. Trotzdem will „Rescue“ es den Beteiligten in Zukunft
       ermöglichen, anonym Details der Vorfälle zu teilen und diese regelmäßig zu
       veröffentlichen. „Nur so können wir über den Notfallknopf hinaus
       Sichtbarkeit schaffen“, sagt Shadw Helal.
       
       Seit Oktober kann die App heruntergeladen werden. „Dass wir damit zwei Tage
       vor dem ersten Artikel zur #MeToo-Debatte erschienen sind, war für unser
       Anliegen natürlich eine große Sache.“ Bei Fernsehauftritten, in
       Radiointerviews und Zeitungsbeiträgen kam Helal zu Wort. Startup Scene, ein
       ägyptisches Magazin für Digitales, nahm sie sogar in die Liste der 25
       einflussreichsten jungen Entwickler des Landes auf. Zuvor wurde Helal von
       WeMena, einem von der Weltbank initiiertem Wettbewerb für digitale Projekte
       arabischer Frauen, in Casablanca ausgezeichnet. Ihre App schaffte es unter
       die Top 200 aller von Frauen aus der Region entwickelten Anwendungen.
       
       ## Enormer Zuspruch in sozialen Medien
       
       Auch in Ägypten unterstützen viele ihre Idee. Schon in den ersten Tagen der
       #MeToo-Debatte erlebte Helal einen enormen Zuspruch in den sozialen Medien.
       Jetzt möchte sie diesen Rückenwind nutzen und sich beim nationalen
       Frauenrat um Unterstützung bewerben, danach soll eine Anfrage beim UN-Organ
       für Gleichstellung und Frauenförderung folgen.
       
       Auch deshalb ist Shadw Helal vorsichtig, wenn es darum geht, die
       Untätigkeit der Polizei und der Politik anzuprangern. Sich gegen den seit
       dem Putsch regierenden Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi zu stellen, könnte
       das Ende für ihr Projekt bedeuten. Stattdessen integrierte sie alle
       Telefonnummern von Dienststellen der Sicherheitskräfte und Krankenhäusern
       in die App. Shadw Helal ist sich durchaus bewusst, dass sie mit ihrem
       Projekt auf einem schmalen Grat wandert. Vor wenigen Monaten setzte al-Sisi
       das international umstrittene NGO-Gesetz in Kraft. Das Gesetz stellt
       sämtliche Nichtregierungsorganisationen unter staatliche Beobachtung,
       ermöglicht hohe Strafen und will verhindern, dass ausländische Gelder in
       ihre Arbeit fließen.
       
       Auch abseits der Regierung hat Helal mit Widerstand zu kämpfen. „Rescue“
       polarisiert. Ägypten ist ein zutiefst islamisch-konservativ geprägtes Land.
       Eine Umfrage der Vereinten Nationen zeigt, welches Frauenbild in der
       patriarchalen Gesellschaft herrscht: Mehr als 90 Prozent aller ägyptischen
       Männer wollen zu jeder Zeit wissen, wo sich ihre Frau aufhält, sie wollen
       bestimmen, was sie anziehen darf und mit wem sie das Haus verlässt. 96
       Prozent der Männer gaben an, zu erwarten, dass die Ehefrau zum
       Geschlechtsverkehr bereit sein muss, wann immer der Mann es wünscht.
       
       Frauen dürfen nicht selbst über ihre Sexualität bestimmen – diese Haltung
       schlägt sich auch in der ägyptischen Rechtsprechung nieder. Die Sängerin
       Shaimaa Ahmad leckte in einem Musikvideo an einer Banane. Sie wurde wegen
       „Anstachelung zu öffentlicher Unzucht“ zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.
       Gleich drei Jahre hinter Gitter muss die Fernsehmoderatorin Doaa Salah. Sie
       hatte in ihrer beliebten Talkshow darüber gesprochen, dass Frauen auch
       außerhalb der Ehe Kinder bekommen können. Der Anwalt Nabih al-Wahsh
       verkündete derweil in einer Talkshow, dass es „nationale Pflicht“ sei,
       „Frauen in zerrissenen Jeans zu vergewaltigen“. Immerhin: Er wurde
       inzwischen zu drei Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe verurteilt.
       
       Der Bedarf für die App ist da: Allein im November und Dezember kam sie in
       287 Fällen zum Einsatz. 600 aktive Helfer gibt es bereits in Kairo, über
       3.000 Frauen haben sich ein Profil angelegt. Kürzlich hat Helal sie alle
       kontaktiert und zu einem kostenlosen Selbstverteidigungsworkshop
       eingeladen. „Wir wollen die vielen Frauen dazu empowern, sich wehren zu
       können und auch sie zu freiwilligen Helferinnen ausbilden“, sagt Helal. Was
       mit einem Anruf begann, soll zu einem großen Netzwerk erwachsen und in Form
       eines digitalen Rettungsschirms irgendwann die ganze Stadt umspannen.
       
       28 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) David Gutensohn
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Ägypten
 (DIR) Sexualisierte Gewalt
 (DIR) Schwerpunkt #metoo
 (DIR) Abdel Fattah al-Sisi
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Homophobie
 (DIR) Justiz in Ägypten
 (DIR) Ägypten
 (DIR) Ägypten
 (DIR) Saudi-Arabien
 (DIR) Frauen
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Drei Jahre Haft für Homosexuelle: 14 Männer in Ägypten verurteilt
       
       Homosexuelle werden in Ägypten zunehmend verfolgt, 70 Menschen wurden seit
       September inhaftiert. Ein Gesetz zur Kriminalisierung von Homosexualität
       ist geplant.
       
 (DIR) Inhaftierung nach Konzert von Aktivisten: Ägypten will keine Regenbogen sehen
       
       Homosexualität ist in Ägypten nicht verboten. Doch gewisse Fahnen gehen den
       Behörden zu weit. Nach einem Konzert wurden 31 Personen verhaftet.
       
 (DIR) Sperrung des Online-Portals „Qantara.de“: Zunehmend hysterisch
       
       Ägyptens Regierung sperrt den Zugriff auf das Onlineportal „Qantara.de“.
       Damit wird eine Brücke zwischen den Kulturkreisen eingerissen.
       
 (DIR) Aktivistin über Frauenrechte in Ägypten: „Eine eindeutige Niederlage“
       
       Mit der Empowerment-Bewegung auf dem Tahrirplatz hat in Ägypten sexuelle
       Gewalt neue Dimensionen erreicht. Die Aktivistin Heba Morayef über
       Diskriminierung.
       
 (DIR) Kommentar Frauen in arabischen Ländern: Fragwürdiges Ranking
       
       In Ägypten geht es Frauen schlechter als in Saudi-Arabien? Die Studie zum
       Thema fußt auf den hohen Erwartungen an die Arabellion-Staaten und ist
       verzerrt.
       
 (DIR) Studie Frauen in arabischen Ländern: In Ägypten geht's Frauen mies
       
       Genderexperten beurteilen die Lage für Frauen in 22 Ländern der arabischen
       Welt. Auf den Komoren geht es ihnen ganz gut, in Ägypten gar nicht.