# taz.de -- Klimawandel in Alaska: Warten auf den letzten Sturm
       
       > Die Beringsee steigt und bedroht ein kleines Dorf in Alaska. Seine
       > Einwohner stehen vor einer Entscheidung: Wann muss man loslassen?
       
 (IMG) Bild: Der alte Standort des Dorfes Shaktoolik, verlassen seit dem Sturm von 1974
       
       Die „Boyde J“ steht so dicht an der Rückseite von Edgar Jacksons Haus, dass
       man fast vom Wohnzimmer aus hineinklettern kann. Eine Leiter lehnt am
       metallenen Rumpf. Im Oktober hat der alte Fischer sein Krabbenboot an Land
       gezogen, es vollgetankt, Essens- und Wasserreserven an Bord getragen und
       ein hölzernes Gerüst auf das Deck gesetzt. Wenn der große Sturm kommt, vor
       dem sich alle in Shaktoolik fürchten, will er seine Familie an Bord
       bringen, eine Plane über das Holzgerüst werfen und versuchen, in Sicherheit
       zu fahren.
       
       „30 bis 40 Leute passen auf mein Boot“, sagt der 72-Jährige, der mehr als
       drei Jahrzehnte lang Bürgermeister von Shaktoolik war: „Es wird eng und
       kalt werden. Aber zumindest haben wir eine Überlebenschance.“ Wie fast alle
       258 Einwohner des Ortes ist Edgar Jackson ein Iñupiat und gehört zu einem
       der mehr als 20 indigenen Völker in Alaska. Wie alle hier nennt er sich
       selbst Eskimo, eine Bezeichnung, die außerhalb des Ortes als altmodisch und
       manchen als beleidigend gilt.
       
       Shaktoolik, 700 Kilometer von Anchorage und 6.000 Kilometer von Washington
       entfernt, liegt am Ende einer schmalen Landzunge zwischen Tundra und
       Beringsee. Keine Straße führt nach Shaktoolik. Die einzige Verbindung zur
       Außenwelt ist die Schotterpiste, auf der kleine Propellerflugzeuge an Tagen
       landen können, an denen die Sicht klar ist. 60 einstöckige Häuser reihen
       sich rechts und links entlang der Piste. Sie führt 20 Kilometer ins
       Landesinnere und endet dort, die Bewohner benutzen sie, wenn sie in der
       Tundra jagen. Auf der Ostseite der Landzunge grenzen die Häuser an den
       Tagoomenik-Fluss, auf der Westseite öffnet sich hinter den Häusern die
       Bucht, die in die Beringsee und in den Nordpazifik übergeht. Das Meerwasser
       nagt an Shaktoolik. Es frisst die Küstenlinie weg.
       
       In der Inupiaq-Sprache, die nur noch die Ältesten im Ort verstehen,
       bedeutet Shaktoolik „vereinzelt“. Aber jetzt zerrt der Klimawandel das Dorf
       vom Nordwestrand des amerikanischen Kontinents ins Zentrum des globalen
       Geschehens. Die Temperaturen in der Region steigen zweimal so schnell wie
       im Durchschnitt auf der Erde. Das Meer droht den Ort zu verschlingen.
       Shaktoolik ist einer von vier Orten in Alaska, die laut US-Rechnungshof
       umgesiedelt werden müssen.
       
       „Es ist viel zu warm in Shaktoolik“, sagt Matilda Hardy. Von ihrem
       Wohnzimmertisch aus, hinter ihr ein Poster von Jesus’ letzten Abendmahl,
       blickt Hardy auf den dunklen Sandstrand, über den immer noch Meerwasser
       schwappt. An diesem frühen Novembertag ist es draußen nur ein Grad unter
       null, zehn Grad wärmer als sonst um diese Jahreszeit. Es regnet, statt zu
       schneien. Früher sah Hardy zu dieser Zeit Menschen über das gefrorene
       Meerwasser gehen, sie sah Schneebänke zwischen den Häusern wachsen, die im
       Winter manchmal so hoch wurden wie die Dächer.
       
       Die Iñupiat von Shaktoolik bekommen mit 55 den Ehrentitel „Älteste“.
       Zusätzlich dazu ist die 60-jährige Matilda Hardy die gewählte Präsidentin
       des Tribal Council, des Stammesrats. In der Eigenschaft sorgt sie dafür,
       dass in Shaktoolik das Stammesrecht respektiert wird. Wenn ein Kind seine
       Eltern verliert oder von ihnen verlassen wird, sucht sie nach einer neuen
       Familie, damit es im Dorf bleiben kann. Und wenn jemand außerhalb stirbt,
       organisiert sie die Rückführung, damit er auf dem kleinen Friedhof am
       Flughafen beigesetzt werden kann.
       
       Mitten im Ort steht das hellblau gestrichene Haus der Jacksons. Dort war
       die Landzunge im letzten Jahrzehnt noch mehr als 100 Meter breit. Seither
       ist die Beringsee 15 Meter näher gekommen. Bei Stürmen schwappt das
       Meerwasser bis an ihre Haustüre.
       
       Die 74-jährige Helen Jackson sitzt in einem kurzärmeligen rosafarbenen
       T-Shirt neben ihrem Mann auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer. In der Mitte des
       holzgetäfelten Raums steht noch der alte gusseiserne Holzofen mit dem Rohr
       nach oben, aber die Wärme kommt nicht mehr von der Treibholzverbrennung,
       sondern von einer Gasheizung. Die Wände sind mit Plüschtieren und
       Familienfotos dekoriert. Auch hier hängt ein Poster des Abendmahls, wie in
       vielen guten Stuben von Shaktoolik. Auf einem Regal stapeln sich
       Basketballtrophäen der Kinder und Enkel. Helen Jackson hat ihre drei Kinder
       ermuntert, im Ort zu bleiben und den alten Lebensstil fortsetzen. Weil
       Shaktoolik sicher ist. Keine Haustüre ist abgeschlossen, nirgendwo stehen
       Zäune. Große Städte hält Helen Jackson – wegen der „Bomben, Terroristen und
       Räuber“ – für unsicher. Und: Shaktoolik ist Zuhause.
       
       An der Beringsee kommen die Stürme im Herbst und fast immer in der Nacht.
       Anders als die Hurrikane im Süden haben sie keine Namen. Aber sie sind
       zerstörerisch und eiskalt. „Bei einem großen Sturm werden hier 60 bis 70
       Menschen erfrieren“, sagt Edgar Jackson, „das ist anders als in Florida und
       Texas“.
       
       Die Naturgewalten waren den Bewohnern von Shaktoolik lange gnädig. Sie
       konnten sich darauf verlassen, dass ihre weite Bucht zugefroren war, bevor
       die Herbststürme kamen. So konnten die Wellen nicht direkt aufs Festland
       branden. Doch jetzt schwinden diese Gewissheiten. Die Sommer werden länger,
       die Winter milder. Die Herbststürme kommen nun vor dem Eis.
       
       Selbst der Untergrund ist in Bewegung geraten. Früher hielt der Permafrost
       den Untergrund das ganze Jahr mit Eis zusammen. Um den Boden nicht zu
       erwärmen, setzen sie in Shaktoolik ihre Häuser auf Stelzen. Jetzt taut der
       Permafrost. Der Boden weicht auf. Trägt nicht mehr wie früher.
       
       Die Iñupiat von Shaktoolik leben seit Generationen in einer Symbiose mit
       der rauen Natur. Die Tundra, die Flüsse und das Meer sind ihr „Garten“. In
       die beiden Geschäfte, wo Hühnerschenkel und Apfelsaft fünfmal so viel
       kosten wie in New York, geht man nur im Notfall. Stattdessen jagen die
       Dorfbewohner Karibou und Elche, sammeln wilden Rhabarber, Kräuter und
       Beeren oder erlegen Beluga-Wale und Seehunde. Sie sagen dann: „Wir ernten.“
       
       Jetzt müssen sie eine Lösung für das globale Problem finden, das ihren
       Garten bedroht. Während alles um sie herum in Bewegung geraten ist, fehlen
       ihnen die Worte, um es zu beschreiben. „Die Wettermuster ändern sich“, sagt
       man im Ort. Das klingt harmlos. Den Umgang mit dem „Wetter“ haben sie
       gelernt. Aber was tut man bei „Klimawandel“? Wann ist der richtige
       Zeitpunkt, die Heimat loszulassen? Wohin geht man?
       
       Vor allem aber: Schon wieder?
       
       In der Nacht vom 9. November 1974 brachte ein Sturm Wassermassen vom Meer
       und zerstörte den alten Flughafen von Shaktoolik. Die frisch Vermählten
       Rhoda und Eugene Asicksik schliefen ahnungslos durch jene stürmische Nacht.
       Erst als der junge Mann am Morgen danach auf eine Zigarette nach draußen
       gehen wollte, merkte er, dass Treibholz seine Haustüre blockierte. „Alles
       war Eis, als ich nach draußen trat“, sagt Asicksik. Das Eis legte sich wie
       eine Schutzschicht um die Häuser und auf den Boden und verhinderte, dass
       sie vom Meer weggerissen wurden.
       
       ## Ein Mann weigerte sich, wegzuziehen
       
       Der Sturm von 1974 war der Auslöser für einen Schritt, den das Dorf zehn
       Jahre lang vor sich hergeschoben hatte: Die Umsiedlung von Shaktoolik.
       Damals lag das Dorf fünf Kilometer weiter die Landzunge herunter, an einer
       Stelle, wo die Bucht schon am Ufer tief ist. Stürme, die Wassermassen
       brachten, hatten das Dorf lange bedroht. Bereits 1964 hatten die Bewohner
       von Shaktoolik entschieden, umzuziehen, waren aber zehn Jahre lang, bis zum
       großen Sturm, geblieben.
       
       Wer im Dorf der Entscheidung von damals hinterherspürt, stößt auf
       verschiedene Versionen. Zur Wahl gestanden hatte ein Platz am Fuß der Berge
       und der heutige Standort von Shaktoolik. Jene, die damals den Ausschlag
       gaben, sind tot. Die Nachgeborenen sagen, „die Ältesten haben entschieden“.
       Sie stimmten, so viel ist zu erfahren, mit einer knappen Mehrheit von zwei
       oder drei Stimmen gegen den Fuß der Berge. Die Ältesten wollten auf
       Augenhöhe mit dem Meer bleiben. Um ihre Boote ins Wasser lassen zu können,
       sobald ein Wal in Sicht kam.
       
       Schon damals hielten viele im Dorf die Entscheidung für falsch. Darunter
       auch Eugene Asicksik, der die Sturmnacht durchschlafen hatte. Er hielt den
       höher gelegenen Standort für sicherer. Aber er war jung und fügte sich der
       Weisheit der Ältesten. Das Wort „Klimawandel“ war noch nicht in
       Shaktoolik angekommen. Nur ein alter Mann weigerte sich wegzuziehen. Er
       blieb allein im alten Shaktoolik, jagte, fischte und lebte dort, bis er
       starb.
       
       Die Reste der alten Holzhäuser ragen wie Denkmäler einer vergangenen Zeit
       in den tiefliegenden Himmel. Genevieve Rock, 54, hat in einem von ihnen
       ihre ersten zehn Jahre verbracht. Als kleines Mädchen holte sie Wasser aus
       dem Fluss. Als sie im vergangenen Sommer dort Ayu-Blätter für den Tee
       sammelte, dachte sie an ihre Großmutter, von der sie ihren Namen hat. „Sie
       ist über diese Tundra gegangen, sie hat hier Beeren gesammelt“, sagt sie,
       während sie durch das hohe Gras zwischen zwei verrosteten Booten geht.
       „Wenn ich hier bin, spüre ich ihre Gegenwart.“ Rock lebte 17 Jahre lang in
       Anchorage. Aber als im vergangenen Jahr ihre Mutter starb und ihre Brüder
       sie riefen, kehrte sie mit Partner und den vier erwachsenen Kindern zurück
       nach Shaktoolik.
       
       ## Nur Englisch war erlaubt
       
       Nicht von den Iñupiat wurde der Standort für das alte Shaktoolik gewählt,
       sondern vom regierungseigenen Bureau of Indian Affairs, der Bundesbehörde,
       die in den gesamten Vereinigten Staaten Kinder von Ureinwohnern in Schulen
       gezwungen hat. In den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts packte das Amt
       Baumaterialien in Schleppkähne und stellte eine Schule an die
       windgeschüttelte Stelle auf der Landzunge, wo die Entladung am einfachsten
       schien. Dann drängte die Behörde die Ureinwohner, die bis dahin als Nomaden
       lebten, sich rund um die Schule niederzulassen: „Den Kindern zuliebe.“
       
       Edgar Jackson, der alte Fischer, ging damals in diese Schule. Wenn er
       Inupiaq sprach, steckten ihm die Lehrer Seife in den Mund. Nur Englisch war
       erlaubt. Das Misstrauen blieb an ihm haften. Um seinen Kindern die
       Erniedrigung zu ersparen, hat er ihnen die „alte Sprache“ nie beigebracht.
       Zu Hause spricht er sie nur mit seiner Frau.
       
       Gleichzeitig mit der „alten Sprache“ verschwanden auch die Schamanen, die
       Iñupiat-Tänze und die Trommeln aus Shaktoolik. Eugene Asicksik sagt heute:
       „Wir haben unsere Traditionen nicht abgeschafft. Die Missionare haben sie
       uns genommen.“ Er wurde als kleiner Junge in ein Internat am anderen Ende
       Alaskas geschickt, aus dem er erst als Erwachsener nach Hause zurückkehrte.
       Asicksik hat nie erfahren, ob es der Wunsch seiner Mutter war oder ob sie
       es auf Druck der Lehrer tat, weil sie eine Witwe war. Aber noch als
       65-Jähriger senkt er seine Stimme, wenn er über die Zeit im Internat
       spricht.
       
       Mit dem Umzug ins neue Dorf beschleunigte sich das Leben von Shaktoolik.
       Das Wasser fließt jetzt aus dem Hahn. Die neuen Häuser sind aus
       Fertigteilen zusammengesetzt, manche sind himbeerrot, manche lila, manche
       türkis angestrichen. Die Bewohner tragen statt Silberfuchsfellen
       Isolationskleidung aus Südostasien. Die Stars der Jugendlichen von
       Shaktoolik sind nicht mehr die besten Jäger, sondern die Basketballspieler
       der Schule. Und an der Schule gibt es eine zweisprachige Lehrerin, die
       Inupiaq unterrichtet.
       
       Die Bevölkerung des kleinen Ortes, die von außen so geschlossen wirkt, hat
       in ihrem Inneren viele Bruchlinien, die mit dem Klimawandel tiefer werden.
       Vor allem die Jungen wollen so schnell wie möglich auf einen höher
       gelegenen Standort am Fuß der Berge umsiedeln. „Ihr steckt Geld in ein
       sinkendes Schiff“, sagt Michael Rock. Der Sohn der Spätheimkehrerin
       Genevieve Rock hat seine Kindheit in Anchorage verbracht, jetzt ist er 34
       und lebt in Shaktoolik. Während der Fangsaison kann er dort auf einem
       kommerziellen Krabbenboot bis zu 8.000 Dollar im Monat verdienen – mehr als
       auf jeder Baustelle in Anchorage. Michael Rock hat einen pragmatischen
       Zugang zu Shaktoolik.
       
       Aber den Ältesten fällt es schwer, ihre bekannte Welt aufzugeben. Ihre
       Vorschläge sind ein Verwirrspiel. Oft widersprüchlich, unrealistisch oder
       vage. Edgar Jackson möchte eine befestigte und asphaltierte
       Evakuierungsroute zum Festland bauen. Über den Routenverlauf gibt es keine
       Einigkeit. Jackson möchte auch eine Notbeleuchtung, damit Boote in der
       Sturmnacht die Fahrrinne im Fluss finden können. Aber andere im Ort
       schütteln den Kopf. „Das gibt ihnen bloß das Gefühl, dass sie etwas tun“,
       sagt Eugene Asicksik. Schon für erfahrene Seeleute sei es eine
       Herausforderung, in einer Sturmnacht mit hohen Wellen und einem
       möglicherweise zugefrorenen Fluss auf Boote zu gehen, sagt er. Aber für
       Kinder und Alte sei es vor allen Dingen gefährlich. Ganz abgesehen davon
       ist auf den fünf großen Booten in Shaktoolik, die jetzt ganz nah an
       Hausfassaden geparkt sind, nicht genug Platz für alle im Dorf.
       
       Auch über die Turnhalle der Schule – die die Gemeinde als Zufluchtsort für
       einen Sturm ausgewählt hat – gibt es im Dorf Dissens. Weil das Gebäude
       unter der Wucht des Meeres einstürzen und die Zufluchtsuchenden unter sich
       begraben könnte. Andere halten den Bau einer Notunterkunft am Fuß der
       Berge, wo 251 Menschen in den Tagen bis zur Ankunft von Rettungstrupps
       Wärme, Wasser und Essen finden könnten, für ein überzogenes Projekt. Und
       Matilda Hardy, die Präsidentin des Stammesrats, prophezeit, dass die Kosten
       für eine Umsiedlung so hoch sein werden, dass damit garantiert jede
       Diskussion darüber endet.
       
       Doch im Sommer 2014 erlebte Shaktoolik einen Hauruckmoment. Eugene Asicksik
       war gerade der Bürgermeister des Ortes. Auswärtige Ingenieure hatten ihm
       vorgeschlagen, das Dorf auf der Meerseite mit einem Damm zu schützen – doch
       Geld für die Umsetzung gab es nicht.
       
       Asicksik fackelte nicht lange. Ohne eine Genehmigung aus Anchorage und
       Geld aus Washington kaufte er zwei ausrangierte Kipplaster von der
       US-Armee, zwei Schaufellader und einen Traktor, ließ sie per Schleppkahn
       nach Shaktoolik bringen und heuerte acht Leute aus dem Ort an. Die Arbeiter
       fuhren im immer hellen Sommer Alaskas in Tag- und Nachtschichten Schotter
       in den Ort und schütteten einen zwei Meter hohen und 1,6 Kilometer langen
       Deich auf.
       
       Der Deich hat Dutzende von Neugierigen aus anderen vom Klimawandel
       betroffenen Orten Alaskas nach Shaktoolik gelockt. Und er hat im Dorf die
       Hoffnung geweckt, dass vielleicht doch etwas möglich ist. Aber alle wissen,
       dass der Deich sie nicht vor einem Jahrhundertsturm schützen kann. „Im
       besten Fall gewinnen wir Zeit“, sagt Eugene Asicksik. Trotz des Deichs, auf
       den alle im Ort stolz sind, ist er nicht als Bürgermeister wiedergewählt
       worden. Das Ehepaar Asicksik sitzt jetzt auf gepackten Koffern. Er ist
       verbittert darüber, dass sein Rat nicht mehr gewollt ist. Sie sagt, das
       Warten auf die Katastrophe sei unheimlich. Im Januar wollen die Asicksiks
       umziehen. Aber Eugene Asicksik sieht es nicht als Abschied für immer. Er
       ist schon oft zwischen Shaktoolik und dem Rest der USA gependelt.
       
       ## Ein halbes Dutzend Behörden sind zuständig
       
       Edgar Jackson und Matilda Hardy sind Dutzende Male nach Anchorage gereist,
       um mit Politikern aus Alaska und Washington über Unterstützung zu sprechen.
       Zuletzt waren sie Anfang Dezember dort. „Sie versuchen, uns zu helfen“,
       sagt Edgar Jackson. Aber er befürchtet auch, dass die Hilfe „erst kommt,
       wenn die Katastrophe schon da ist“. Matilda Hardy fasst ihre Beobachtungen
       so zusammen: „Kein Geld“. Umgekehrt spüren die Behördenvertreter, dass die
       Vertreter aus Shaktoolik noch mit sich hadern und keine Entscheidung
       getroffen haben.
       
       In Anchorage und in Washington ist die prekäre Lage vieler Ureinwohner an
       Alaskas Küste seit Jahren bekannt. Schon 2003 mahnte der US-Rechnungshof in
       einem Bericht an den US-Kongress, dass die Mehrheit der 200 Küstendörfer
       von Erosion und Fluten bedroht seien. In einem weiteren Bericht von 2009
       nannte er Shaktoolik neben Kivalina, Shishmaref und Newtok als die vier
       Orte, die umgesiedelt werden müssen. Weitere 27 Orte an Alaskas Küste seien
       ebenfalls „vom Klimawandel bedroht“. Klimaforscher prognostizieren, dass
       die meisten dieser Orte bis Mitte des Jahrhunderts unbewohnbar sein werden.
       
       Dennoch ist nicht viel passiert. Alle 31 Dörfer sind weiterhin an ihrem
       gefährlichen Standort. Newtok, dessen Bevölkerung schon seit zwanzig Jahren
       über eine Umsiedlung diskutiert, hat erst in diesem Jahr den Grundstein für
       einen neuen Ort gelegt. Es mangelt vor allem am Geld. Jede einzelne
       Umsiedlung würde – wegen der hohen Baukosten für Straßen, Häuser und
       Flughäfen in der subarktischen Region – hunderte Millionen Dollar kosten.
       Die Behörden lehnen die Umsiedlungen nicht grundsätzlich ab, aber sie geben
       auch nicht die nötigen Gelder frei. Erschwerend für die Ureinwohner kommt
       hinzu, dass sie ab dem Moment, in dem sie eine Umsiedlung beschließen,
       weniger Subventionen für den Erhalt ihrer alten Infrastruktur bekommen.
       Doch so eine Umsiedlung kann dauern. Und in der Zwischenzeit müssen
       Schotterstraßen instandgehalten, Flughäfen repariert und Krankenstationen
       ausgebaut werden.
       
       Umsiedlungen wegen Klimawandel sind ein neues Thema für die USA.
       Theoretisch betrifft es mehr als ein halbes Dutzend Behörden – vom
       Wohnungsbauministerium über die Umweltbehörde bis zum
       Landwirtschaftsministerium. Sie schieben die Verantwortung zwischen sich
       hin und her, keine fühlt sich zuständig. 2015 vor der Unterzeichnung des
       Pariser Abkommens sah es so aus, als könnte sich das ändern. Barack Obama
       reiste nach Alaska und sprach als erster US-Präsident öffentlich über
       Umsiedlungen wegen Klimawandel. Aber es blieb ein symbolischer Auftritt.
       Obamas Vorschlag, die Umsiedlungen mit Abgaben aus Offshorebohrungen zu
       finanzieren, schaffte es nicht einmal in den Kongress. Von seinem
       Nachfolger ist noch weniger Unterstützung zu erwarten. Donald Trump hat das
       Wort „Klimawandel“ aus den Dokumenten der Regierung getilgt. Beamte in
       Washington, die sich mit dem Thema befasst haben, sind unter ihm
       strafversetzt oder gefeuert worden.
       
       In Alaska ist das anders. Dort bezweifelt immerhin niemand, dass der
       Klimawandel real ist. Aber der Staat lebt im Rhythmus der Ölpreise. Seit
       die abgestürzt sind, hat er wenig Geld für neue öffentliche Projekte. Dazu
       kommt, dass die Lage der Dörfer längs der Küste nur eine von vielen Folgen
       des Klimawandels in dem Bundesstaat ist. Andere Auswirkungen sind die
       Übersäuerung des Meeres, die den Fischbestand bedroht, der Schädlingsbefall
       sowie die Brände, die in den Wäldern wüten, und die Straßen, die wegen der
       Schmelze des Permafrosts einbrechen.
       
       Eine kleine Bundesbehörde mit Sitz in Anchorage, die Denali Commission,
       berät die betroffenen Dörfer. Aber in einem Bundesstaat, doppelt so groß
       wie Texas, sind die Möglichkeiten der 15 Beschäftigten begrenzt. „Wir
       könnten helfen, wenn wir als Land eine langfristige Strategie in der
       Klimapolitik hätten“, sagt Joel Niemeyer von der Kommission, „aber wir
       haben keine.“
       
       Eine andere Lobby außerhalb des Ortes haben die Bewohner von Shaktoolik
       nicht. Die Ureinwohner stellen heute nur noch 15 Prozent der 700.000
       Bewohner in Alaska. Und sie sind keineswegs ein geschlossener Block. Sie
       kommen aus verschiedenen Sprachen und Kulturen, und eine Mehrheit von ihnen
       lebt nicht mehr in kleinen Dörfern, sondern in Städten.
       
       Aber in einem Punkt sind sich alle Bewohner von Shaktoolik und der anderen
       vom Untergang bedrohten Orte entlang der Küste Alaskas einig: Sie wollen
       unter sich bleiben. Jedes Mal, wenn aus Washington das Ansinnen kommt,
       mehrere Dörfer zusammenzulegen, um Kosten zu sparen, winken sie ab.
       
       „Wir sind alle anders“, sagt Matilda Hardy kategorisch, „wir haben
       unterschiedliche Kulturen und unterschiedliches Essen.“ Die Präsidentin des
       Tribal Council blickt von ihrem Wohnzimmertisch auf den Schotterdeich, das
       Meer und den Sonnenuntergang, der im Spätherbst Stunden dauert. Sie hofft,
       dass die zweisprachige Lehrerin an der Schule die Kinder wieder für Inupiaq
       begeistert. Dass die jungen Leute, die gegangen sind, zurückkommen. Und
       dass sie sich „weniger mit Technologie und mehr mit Sprache“ befassen. Im
       Hintergrund piepst ein Funkgerät. Hardys Sohn arbeitet für die
       Fluggesellschaft. Wenn eine Propellermaschine im Anflug ist, bekommt er
       eine Funknachricht. Dann muss er die Passagiere in Shaktoolik anrufen, ihr
       Gewicht und das ihres Gepäcks erfassen und so viele, wie das Flugzeug
       transportieren kann, zum Flugplatz bringen.
       
       „Ich will hier nicht weg“, sagt die Mutter, „ich hoffe, Shaktoolik schafft
       es noch 30 Jahre.“
       
       15 Dec 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dorothea Hahn
       
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       Der letzte große westliche Energiekonzern gibt die Suche in der Region auf.
       Währenddessen feiert Greenpeace den „Sieg für das Klima“.
       
 (DIR) Erster Arktis-Besuch eines US-Präsidenten: In der Kälte gegen Klimawandel
       
       Bei seinem Besuch in Alaska weist Barack Obama auf die Folgen der
       Erderwärmung hin. Die Menschen im Nördlichen Polarkreis sind bereits in
       Not.