# taz.de -- Bündnis der Visegrád-Staaten: Das andere Europa
       
       > Wirtschaftsboom, Kritik an Brüssel und Abwehr von Migration: viel mehr
       > eint Tschechien, Ungarn, Polen und die Slowakei nicht.
       
 (IMG) Bild: Visegrád, ein Bollwerk gegen den Rest der Welt
       
       Wien taz | Wie sehr die Atmosphäre in manchen EU-Staaten durch den
       fremdenfeindlichen Diskurs vergiftet ist, konnte man Anfang Oktober in der
       kleinen ungarischen Gemeinde Öcsény beobachten: Die Einwohner organisierten
       einen Aufstand, als eine lokale NGO einigen Kindern anerkannter Flüchtlinge
       einen Erholungsurlaub in einem Gästehaus finanzieren wollte. Der Betreiber
       fand seinen Wagen mit durchstochenen Reifen und eingeschlagenen Scheiben.
       
       Bürgermeister János Fülöp trat nach Morddrohungen aus Angst zurück. Auf
       einer Einwohnerversammlung kam es zu Schreiduellen. Wortmeldungen, wie
       „diese Einwanderer sind Tiere, das sind keine Menschen, sie sind
       Terroristen, sie werden alles zerstören und unsere Kinder vergewaltigen“,
       wurden protokolliert. Premier Viktor Orbán zeigte volles Verständnis für
       diese Ausschreitungen gegen Minderjährige, die ein paar Tage Zerstreuung in
       der Natur suchten: „Ich kann daran nichts Falsches finden. Die Menschen
       wollen keine Einwanderer.“
       
       Ungarn bildet gemeinsam mit Tschechien, der Slowakei und Polen die
       Visegrád-Gruppe, benannt nach der ungarischen Grenzstadt am Donauknie. In
       der mittelalterlichen Stadt, wo einst 1335 die Könige von Böhmen, Ungarn
       und Polen zusammengetroffen waren, schlossen deren Nachfolger 1991 ein
       Freihandelsabkommen. Gemeinsame Verteidigungsinteressen, vor allem
       gegenüber Russland, einten die Gruppe auch nach dem Nato-Beitritt 1999 (die
       Slowakei folgte 2004). Nach der gemeinsamen Aufnahme in die EU blieb die
       Gruppe als informelles Binnenbündnis V4 bestehen. Die vier Nettoempfänger
       von EU-Geldern eint das gespannte Verhältnis zu Brüssel und die geradezu
       paranoide Abwehr von Zuwanderung, vor allem in der Gestalt von
       Flüchtlingen. Gemeinsam stemmen sie sich gegen die EU-Quote zur Aufteilung
       von Flüchtlingen, wenn sich auch etwa die Slowakei einsichtiger zeigt als
       Ungarn.
       
       In Brüssel gilt der Terminus Visegrád-Gruppe als Synonym für halsstarrige
       Rechtsaußenpolitik und EU-Bashing als innenpolitische Wunderwaffe. Kein
       Wunder, dass alle Andeutungen, die Gruppe könne weitere Mitglieder
       bekommen, als gefährliche Drohung verstanden werden. In ihrem letzten
       TV-Duell vor den Nationalratswahlen vom 15. Oktober waren sich Sebastian
       Kurz (ÖVP) und Heinz-Christian Strache (FPÖ) in fast allen Punkten einig.
       Ein kindischer Wettstreit entfachte sich einzig über der Frage, wer nähere
       Beziehungen zu Viktor Orbán pflege und ihn öfter getroffen habe. Kurz und
       Strache werden wahrscheinlich die nächste Regierungskoalition in Österreich
       verhandeln. Und für beide gilt eine Annäherung an die V4 als
       erstrebenswert.
       
       ## Die Wirtschaft boomt, die Abschottung auch
       
       In seinem Essay „Europadämmerung“ beschreibt der bulgarische Politologe
       Ivan Krastev die Flüchtlingskrise von 2015 als weit gefährlicher für die
       europäische Einheit als den Brexit oder das Nord-Süd-Gefälle samt
       Griechenland-Krise. Die mit der Massenmigration aufgebrochene
       Ost-West-Spaltung bedrohe den Fortbestand der Union. Krastev sieht hinter
       der Solidaritätsverweigerung der Osteuropäer die feindselige Haltung der
       von der Wende und der Politik Brüssels enttäuschten „vergessenen
       Verlierer“.
       
       Ökonomisch ist diese Haltung nicht zu begründen. In allen vier Staaten
       boomt die Wirtschaft. Trotzdem, so Krastev, herrsche Angst vor der
       dramatischen Schrumpfung der eigenen Bevölkerung. Die Geburtenraten sind
       niedrig, die illiberale Politik vertreibt vor allem die Jungen und
       Gebildeten.
       
       Wie stark auch die Gemeinsamkeiten der V4 sein mögen, die Dynamik im
       Inneren unterscheidet sich doch deutlich. Während Viktor Orbán in vielen
       Entscheidungen von einer rechtsextremen Opposition in Gestalt der
       faschistischen Jobbik getrieben wird, ist in Polen rechts von der
       nationalkonservativen PiS keine ernsthafte Kraft auszumachen. Jarosław
       Kaczyński und seine Leute werden von katholischem Obskurantismus getrieben,
       Orbán ist besessen von der ethnischen Reinheit der magyarischen Nation,
       beide sehen sich als Bollwerk gegen den Islam, wobei das von 16. bis ins
       frühe 18. Jahrhundert vom Osmanischen Reich besetzte Ungarn sich leicht als
       Opfer inszenieren kann.
       
       In ihrem Feldzug gegen alles, was als sozialistisch oder liberal gesehen
       werden kann, handeln Orbán wie Kaczyński auch gegen die
       volkswirtschaftliche Vernunft. Während der ungarische Premier sich rühmt,
       mit einem Monatsgehalt von 1.191 Euro der bescheidenste Regierungschef
       Europas zu sein, häufen seine Familienmitglieder Vermögen an. Sein
       Schulfreund Lörinc Mészáros, Bürgermeister von Orbáns Heimatgemeinde
       Felcsut, der in den vergangenen Jahren dank staatlicher Aufträge zum
       schwerreichen Multiunternehmer geworden ist, wird von vielen für einen
       Strohmann gehalten. Sein Vermögen verdoppelt sich angeblich jedes Jahr.
       
       ## Überall Korruption
       
       Besessen vom Ziel, die Oligarchen aus der sozialistischen Zeit durch eine
       eigene Klasse von politisch genehmen Millionären zu ersetzen, hat Orbán
       die Schleusen für Korruption weit geöffnet. „In Ungarn ist alles erlaubt“,
       schreibt Gábor Horváth, Chefredakteur der Zeitung Nepszava, „entscheidend
       ist, ob du gute Kontakte zu Orbán hast – oder nicht“.
       
       So homogen, wie es von außen manchmal erscheint, ist die Visegrád-Gruppe
       also nicht. Die Slowakei, nach dem Wahlsieg von Andrej Babiš in Tschechien
       das einzige sozialdemokratisch regierte V4-Land, hält sich beim
       Brüssel-Bashing auffallend zurück, und Premier Robert Fico hat auch –
       anders als Viktor Orbán – die Niederlage in der Frage der Flüchtlingsquoten
       hingenommen.
       
       Auch was die Beziehungen zu Russland betrifft, sind die vier nicht auf
       einer Linie. Während die Polen das Trauma der russischen Besetzung gern
       kultivieren, macht Orbán Geschäfte mit Putin und begibt sich mit einem
       Kreml-Kredit für das milliardenschwere Atomkraftwerk Paks II für Jahrzehnte
       in die ökonomische Abhängigkeit von Moskau.
       
       Trotz öffentlich bekundeter Sympathien wird sich Österreichs künftiges
       Regierungsduo hüten, die politische Neutralität aufs Spiel zu setzen.
       Schließlich will man bei der Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2018
       als Mittler und nicht als Spalter auftreten. Auch der Politologe Anton
       Pelinka glaubt nicht an einen formalen Beitritt Österreichs – doch
       informell könnte das Land „sich auf europäischer Ebene eher wie Ungarn und
       Polen verhalten und weniger wie Luxemburg oder Deutschland“.
       
       22 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ralf Leonhard
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Visegrad-Gruppe
 (DIR) Migration
 (DIR) Europa
 (DIR) Schwerpunkt Brexit
 (DIR) Ungarn
 (DIR) Tschechien
 (DIR) EU-Sanktionen
 (DIR) Polen
 (DIR) Polen
 (DIR) EU-Gipfel
 (DIR) Ungarn
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Wahlkampf in Ungarn: Verrat oder Heimattreue
       
       Regierungschef Viktor Orbán schürt mal wieder fremdenfeindliche
       Ressentiments. NGOs, die Flüchtlingen helfen, sollen kalt gestellt werden.
       
 (DIR) Regierungsbildung in Tschechien: Prager Postenschacherei
       
       Der designierte Ministerpräsident Babiš organisiert Unterstützung für eine
       Minderheitsregierung im Tausch gegen Einfluss.
       
 (DIR) Kommentar EU-Verfahren gegen Polen: Drum prüfe, wer sich ewig windet
       
       Die EU-Abgeordneten drücken sich davor, den Entzug des Stimmrechts für
       Polen einzuleiten. Die Wertegemeinschaft ist ein zahnloser Tiger.
       
 (DIR) Großdemo zu Polens Unabhängigkeitstag: Zehntausende für ein „weißes Europa“
       
       Zehntausende Menschen haben am Samstag in Polen an einer ultrarechten Demo
       teilgenommen. Teilnehmer trugen dabei Banner mit eindeutigen
       Neonazi-Sprüchen.
       
 (DIR) Polnisches Restaurant in Berlin: Endlich saure Mehlsuppe
       
       „Komm, wir gehen polnisch essen!“ Diesen Satz hört oder sagt man bisher
       selten, auch weil es kaum polnische Restaurants gibt. Das ändert sich
       gerade.
       
 (DIR) Vor dem EU-Gipfel in Brüssel: Zoff statt Vorfreude
       
       Berlin will keine Rücksicht mehr auf „langsame“ Partner nehmen. Warschau
       kritisiert dagegen die deutsche Dominanz in der EU.
       
 (DIR) Kommentar Asselborn gegen Ungarn: Orbán ist fast schon Mainstream
       
       Europa rückt nach rechts. Diese Entwicklung könnte man auch mit dem von
       Asselborn vorgeschlagenen Rauswurf Ungarns nicht aufhalten.