# taz.de -- Aufbruch in die Kunst-Moderne: Das wunderbare Revonnah
       
       > Als Hannover Avantgarde-Heimat war: Das Sprengel Museum macht sich an
       > eine so umfassende wie gelungene Aufarbeitung.
       
 (IMG) Bild: Ohne den geht in Revon so gar nichts: Der Avantgarde-Altvordere Kurt Schwitters (um 1926)
       
       Das aufziehende 100-Jahr-Jubiläum des Bauhauses 2019 mag manche Orte,
       Regionen und Institutionen derzeit dazu bewegen, auch in ihrem Beritt einer
       Avantgarde der Zwischenkriegsjahre nachzuspüren. Das Landesmuseum Oldenburg
       forscht seit Geraumem zu Bauhäuslern in der norddeutschen Provinz, in
       Hannover ist man ebenfalls schon länger dabei, Schätze des legendären,
       dadaistisch inspirierten Aufbruchs um die Integrationsfigur Kurt Schwitters
       zu heben.
       
       Bereits im letzten Jahr thematisierte das Museum August Kestner die
       Pionierfunktion kunstaffiner Unternehmer wie Keksfabrikant Hermann Bahlsen,
       Fritz Beindorff, der die Schreibwarenfirma Pelikan zur weltweiten Marke
       ausbaute, Schokoladenmagnat Bernhard Sprengel oder auch Feinkosthersteller
       Heinz Appel: sie alle hatten früh die künstlerische Qualität eines
       optischen Gesamtauftritts, etwa aus Briefbogen, Plakat und
       Produktverpackung erkannt, beauftragten und förderten Grafiker, Maler oder
       Schriftgestalter, so auch Schwitters.
       
       Ebenso setzte sich im letzten Jahr der 1916 von diesen Unternehmern
       mitinitiierte fortschrittliche Kunstverein der Kestnergesellschaft als
       lokaler Katalysator in Szene, betonte die Tradition einer
       Ausstellungspolitik, die Kunst als Anreger, wenn nicht gar Erreger
       definierte. Dieses Jahr legte man mit einer Würdigung des vielseitigen
       Gestalters Friedrich Vordemberge-Gildewart (1899–1962) nach, er verantworte
       zwischen 1924 und 1934 den grafisch-programmatischen Auftritt der
       Kestnergesellschaft. Und natürlich ist auch das Kabinett der Abstrakten,
       diese Inkunabel der Moderne, die El Lissitzky 1927 im Provinzialmuseum
       Hannover realisierte, seit Februar neuerlich zu bewundern: im
       Sprengelmuseum, rekonstruiert nach aktuellsten Erkenntnissen der Forschung.
       
       Nun bündelt das Museum nochmals diese und weitere, auch unbekanntere
       Facetten in einer großen Ausstellung. Und um es gleich vorwegzunehmen: es
       hat dabei eine so umfassende Aufarbeitung geleistet, die selbst eine mit
       der Materie grundvertraute Niedersächsin zum Staunen bringt. Mit 335 Werken
       von 96 Künstlern lässt das Haus eine quicklebendige Zeit neu aufziehen, der
       dicke Katalog mit 26 Beiträgen liefert ein Standardwerk zur Kunst und
       Kulturgeschichte der Weimarer Republik, weit über Hannover hinaus.
       
       ## Aus Revon ins Exil
       
       „Der Unterschied zwischen Hannover und Anna Blume ist, dass man Anna von
       hinten nach vorn lesen kann, Hannover dagegen am besten nur von vorne.
       Liest man aber Hannover von hinten, er ergibt sich die Zusammenstellung
       dreier Worte: 're von nah’. (…) Dann ergibt sich als Übersetzung des Wortes
       Hannover von hinten: 'Rückwärts nach nah’. Und das stimmt insofern, als
       dann die Übersetzung des Wortes Hannover von vorne ergeben würde: 'Vorwärts
       nach weit’. Das heißt also: Hannover strebt vorwärts und zwar ins
       Unermessliche.“
       
       So schrieb Kurt Schwitters 1920 in Herwarth Waldens Berliner Literatur- und
       Kunstzeitschrift Der Sturm über seine, von ihm Revon genannte, Heimatstadt.
       Das war allerdings gehöriger Zweckoptimismus, denn Hannover hatte sein
       konservativ spießiges Kulturklima noch lange nicht überwunden. Zwar traute
       sich ein lokaler Zigaretten-Hersteller bereits seit 1913, unter dem
       skurrilen Namen Revonnah zu produzieren, das im selben Jahr fertiggestellte
       Neue Rathaus war jedoch von altbacken historistischem Protz, der 1832
       gegründete Kunstverein im Traditionellen stecken geblieben.
       
       So richtig schien man in Hannover, das dank günstiger Standortfaktoren im
       19. Jahrhundert in die erste Liga deutscher Industriestädte aufgestiegen
       war, nicht der eigenen Stärke und Bedeutung zu trauen, fühlte sich
       vielleicht auch zu sehr im Schatten Berlins.
       
       Es bedurfte einer Folge heute kaum erklärbarer Koinzidenzen, bis aus
       Hannover ein Zentrum der progressiven Kunst und Kultur Europas wurde und
       der großbürgerliche Freidenker Kurt Schwitters sein internationales
       Netzwerk entfalten und dessen Protagonisten nach Hannover holen konnte. Da
       wäre Schwitters' künstlerischer Durchbruch zu nennen, 1919 in Waldens
       gleichnamiger Galerie mit seinen Merz genannten provokanten Assemblagen:
       Materialbilder aus Druckerzeugnissen, Abfall und Gemaltem. In Hannover
       sorgte wenig später sein Nonsensgedicht „An Anna Blume“, direkt neben
       Plakate zum Reichstagswahlkampf geklebt, für einen werbewirksamen lokalen
       Skandal.
       
       ## Ein neues Klima
       
       Da ist der Dienstantritt des Kunsthistorikers Alexander Dorner im Sommer
       1919 am Provinzialmuseum, das er aus seinem konservativen Dämmerschlaf
       holte, womit er sich selbst zum Ahnherrn des modernen Kuratierens machte.
       Da ist der ebenso rührige wie eigensinnige Sammler und kurzzeitige Galerist
       Herbert von Garvens, die Künstlerin, Mäzenin und Netzwerkerin Käte
       Steinitz, da sind erstaunlich viele eigenständige, neusachliche Malerinnen:
       Grete Jürgens, Gerta Overbeck, Martel Schwichtenberg oder Leni
       Zimmermann-Heitmüller.
       
       Da sind Sammlerfamilien wie Bahlsen und Beindorff, aber auch ein
       Gymnasiallehrer wie August Nitzschner, der über 4.000 Gemälde von der
       Dürer-Zeit bis in die Gegenwart sammelte und der Stadt vermachte. Sie
       sorgten für ein neues geistiges Klima und bestellten gemeinsam mit vielen
       anderen ein kulturelles Feld, auf dem sich nun auch die internationale
       Avantgarde gern und häufig einfand.
       
       So kam 1922 der russische Konstruktivist El Lissitzky erstmals nach
       Hannover, auf Initiative von Schwitters eingeladen zu einer Ausstellung in
       der Kestnergesellschaft. Der ausgebildete Architekt brachte neue Ideen zum
       Raum und seiner dynamischen Wahrnehmung mit, der Niederländer Theo van
       Doesburg, Mitbegründer des abstrakten De Stijls, kam zu Besuch. Es folgten
       Ausstellungen mit Wassily Kandinsky, Hans Arp, Paul Klee.
       
       In den Inflationsjahren ab 1923 übernahm Alexander Dorner zusätzlich die
       künstlerische Leitung der Kestnergesellschaft, holte Protagonisten des
       Bauhauses nach Hannover, widmete der in Weimar zunehmend in politische
       Bedrängnis geratenden Institution 1924 eine Ausstellung. Er erweiterte die
       Betrachtung auf Architektur, Kunsthandwerk, Fotografie und Film, pflegte im
       Provinzialmuseum mutige Ankäufe und konzeptionelle Aufträge.
       
       Dazu gehören das Kabinett von El Lissitzky, ein weiterer Experimentalraum
       war mit dem zeitweiligen Bauhauslehrer und frühen Medienkünstler László
       Moholy-Nagy geplant: der „Raum der Gegenwart“. Im Anschluss an das Kabinett
       sollte er Architektur, Design und Film einen Auftritt bereiten, mit
       Lichteffekten, Projektionen und modernen Reproduktionstechniken. Um 1930
       konzipiert und damit schon im Visier des erstarkenden Nationalsozialismus,
       zerschlug sich dieses Experiment.
       
       Und auch der unermüdliche Schwitters hatte da bereits in die innere
       Emigration gefunden, ließ in seinen Wohnräumen den Merzbau wuchern, seine
       „Kathedrale des erotischen Elends“. Mit Fotos dieser Raumschöpfung stellte
       er im New Yorker Moma sein Revon noch einmal ins internationale Rampenlicht
       – just als er in Hannover die Koffer fürs Exil packen musste.
       
       „Revonnah. Kunst der Avantgarde in Hannover 1912–1933“: bis 7. Januar 2018,
       Hannover, Sprengel-Museum
       
       17 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bettina Maria Brosowsky
       
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