# taz.de -- Avantgarde in der Provinz: Freunde der Klarheit
       
       > Der Celler Architekt Otto Haesler und der hannoversche Künstler Kurt
       > Schwitters waren Erneuerer auf ihren Gebieten.
       
 (IMG) Bild: Viele winzige Wohnungen: die Celler Siedlung "Blumenlägerfeld" im Jahr 1931.
       
       HANNOVER taz | Hannover wurde – man mag es heute kaum glauben – in den
       1920er-Jahren dank der treibenden Kraft von Kurt Schwitters zu einem
       aktiven Kunstzentrum in Europa. Künstler wie Wassily Kandinsky, Theo von
       Doesburg oder Marcel Duchamp weilten in der Stadt und nahmen an Kongressen
       oder Festen teil, die Schwitters organisierte.
       
       Aber nicht nur Hannover war ein Ort der ästhetischen Neuerungen. Im rund 40
       Kilometer entfernten Celle entstanden in den 1920er-Jahren die auch
       international beachteten Schlüsselwerke des Siedlungs- und Wohnbaus der
       Weimarer Republik: Dort baute der Architekt Otto Haesler ab 1923 die
       Siedlung „Italienischer Garten“, ab 1925 die Siedlung „Georgsgarten“ und ab
       1930 die Kleinstwohnungssiedlung „Blumenlägerfeld“.
       
       Kurt Schwitters in Hannover und Otto Haesler in Celle wussten nicht nur
       voneinander, sie waren miteinander befreundet und arbeiteten sogar
       zusammen. Dieser Zusammenarbeit sowie dem architektonischen und
       künstlerischen Schaffen der beiden widmet die Architektenkammer
       Niedersachsen derzeit eine Ausstellung.
       
       Was ihre Charaktere betrifft, waren Schwitters und Haesler höchst
       unterschiedlich. Schwitters wirkte als Literat und begnadeter Unterhalter
       auf seinen Merz-Abenden. Bildnerisches und Grafisches, Selbstversuche in
       der Architektur seiner zahlreichen Merzbauten, kritische Prosa und
       Produktwerbung wurden stetig zu neuen Mischformen einer vitalen
       Produktivität verflochten. In bourgeoises Milieu 1887 geboren, avancierte
       Kurt Schwitters zum Bürgerschreck Hannovers.
       
       Otto Haesler dagegen wurde 1880 in bescheidenen Verhältnissen in München
       geboren, er kam nach der Baugewerkschule und einer Maurerlehre 1906 ins
       niedersächsische Celle. Da er die Zeit noch nicht reif empfand für einen
       eigenen Ausdruck in der Architektur, knüpfte er in seinen frühen
       Realisierungen an die „letzte gute Bauepoche“ an, wie er rückblickend
       sagte, die Zeit um 1800.
       
       Nach dem Ersten Weltkrieg und seinen sozialen Verwüstungen fand Haesler
       dann zu seiner charakteristischen Architekturhaltung: systematisch in der
       Problemanalyse, sozial programmiert, unter Einsatz industrialisierter
       Bautechnik.
       
       Die Bergmannssiedlung „Maria Glück“, die er 1920 mit knappen
       Materialressourcen zu bauen hatte, ist geradezu prototypisch: Haesler
       verwandte die Konstruktionen ausgedienter Trockenschuppen einer
       stillgelegten Ziegelei, ließ sie umsetzen und zu Wohnhäusern ausbauen –
       „schnell, billig und ansprechend“, so Haeslers Einschätzung.
       
       Die Kleinstwohnsiedlung „Blumenlägerfeld“ war dann die Antwort auf die
       bedrückende Wohnungsnot im Deutschen Reich – 1927 waren über eine Million
       Haushalte ohne eigenes Quartier – und ist die wohl stringenteste Anlage
       Haeslers. Zwei je gut 220 Meter lange parallele Wohnzeilen wurden in
       Stahlskelettbauweise errichtet, eine Konstruktion, die Haesler zuvor in
       einer Siedlung in Kassel erprobt hatte und in Celle optimierte.
       
       Die Orientierung der Zeilen ermöglichte die konsequente Ost-West-Besonnung
       der Innenräume. Die verbindende nördliche Querzeile aus sieben
       Reihenhäusern, der sogenannte „Lungenflügel“, war Tuberkulose-gefährdeten
       Familien vorbehalten. Ihre Wohn- und Schlafräume orientierten sich nach
       Süden, mit vorgelagerter Sonnenterrasse sowie Balkon im Obergeschoss. Die
       umschlossene Grundstücksfläche enthielt Mietergärten zur Selbstversorgung,
       Heiz-, Wasch- und Badehaus wurden gemeinsam genutzt.
       
       Radikaler und preiswerter ging es damals wohl kaum, die Miete der kleinsten
       Wohnung betrug 12 Reichsmark. Habitus und winzige Größen dieser Wohnungen
       für das Existenzminimum wurden allerdings selbst in der Fachwelt polemisch
       aufgenommen. Es kursierte der Witz, beim Nachttopf sei aus Platzgründen der
       Henkel nach innen gelegt.
       
       Kurt Schwitters schrieb im Hannoverschen Tageblatt im August 1928 über die
       neue Architektur in Celle, dass „zwischen Hamburg, Frankfurt am Main und
       Berlin Haesler der einzige Architekt ist, der konsequent den rationellen
       internationalen Baustil schafft. Das aber bedeutet viel (...). Haesler
       (...) kommt zu erstaunlich neuen Resultaten.“
       
       Im Jahr 1929 begann die Zusammenarbeit zwischen Haesler und Schwitters.
       Otto Haesler hatte für seine Wohnungen einfache und preiswerte Möbel
       entworfen – ein runder Klapptisch, ein Hocker, ein Liegestuhl
       beispielsweise –, und versuchte, sie über seine Firma „Celler Volks-Möbel“
       zu vermarkten.
       
       Bereits 1924 hatte Kurt Schwitters aus Begeisterung zu Gedrucktem die
       Werbeagentur „Merz-Werbe Hannover“ ins Leben gerufen. Nun gestaltete er den
       Verkaufsprospekt für Otto Haesler: eine Loseblatt-Sammlung mit sparsamer
       Textinformation, großen Abbildungen und reduzierter rot-schwarzer Grafik.
       
       Der Umschlag aus lindgrünem Karton erinnerte an eine biedere Umlaufmappe
       deutscher Bürokratie – hätte der Textrapport des Titelblattes die Vermutung
       nicht sofort konterkariert. Die Bauausstellung zu Haeslers Bauten in der
       Karlsruher Dammerstock-Siedlung im selben Jahr manifestierte die Symbiose.
       Siedlungsstruktur und Bauformen waren maßgeblich von Haesler geprägt,
       Drucksachen, Beschilderungen und Katalog von Schwitters in kongenialer
       Klarheit empfunden.
       
       Das Jahr 1933 bedeutete das Ende beider Schaffen. Schwitters emigrierte,
       erst nach Norwegen, dann nach England, wo er 1948 verstarb. Haesler zog
       sich nach Schleswig-Holstein zurück und begann nach 1945 seine zweite
       Architektenkarriere in der DDR, verstarb dort 1962, hochgeehrt. Kurt
       Schwitters Werk ist kunsthistorisch gesichert, Otto Haeslers Nachlass in
       Celle dagegen ist gefährdet.
       
       3 Apr 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bettina Maria Brosowsky
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Moderne Kunst
       
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