# taz.de -- Nachruf auf Lyndsey Cockwell: Pop war ihr Ding
       
       > Gründerin des Berlin Pop Choir und Macherin in der queeren Szene: Lyndsey
       > Cockwell ist im Juli gestorben. Nun gibt es eine Gedenkveranstaltung.
       
 (IMG) Bild: In ihrem Element: Lyndsey Cockwell
       
       Bei den Proben des Berlin Pop Choir herrschte immer eine besondere
       Atmosphäre. Während die Muskeln gedehnt, die Tonleitern rauf- und
       runtergesungen wurden, stand Lyndsey Cockwell in einem ihrer bunten Kleider
       vorne, riss zwischendurch einen ihrer staubtrockenen Witze, ihre raue Lache
       hallte durch den Raum.
       
       Ihr warmer Mezzosopran erklang, die Augen leuchteten, sobald der Chor
       sich in vielstimmigen Harmonien in den Pophimmel gesungen hatte. „Yes!
       Beautiful!“, rief sie dann gern, wenn die A-cappella-Versionen der Songs
       von Robyn, Madonna, Velvet Underground, Morrissey oder Depeche Mode sich so
       anhörten, wie sie sollten.
       
       Heute fehlt Lyndsey Cockwells markante Stimme in diesem Chor. Denn am 26.
       Juli ist sie mit 46 Jahren gestorben. Der Krebs, dieser miese,
       hinterhältige Typ, hatte sich vor zwei Jahren in ihr Leben geschlichen. Sie
       hat ihn, trotz aller Behandlungen, stoisch ignoriert.
       
       Sie hat das getan, was sie immer getan hat in ihrem Leben: einfach
       weitergemacht. Ihr Chor ist fassungslos, traurig und ratlos: Wie soll es
       ohne Lyndsey weitergehen? Erst einmal proben, für die Gedenkfeier am
       kommenden Sonntag im Monster Ronson’s.
       
       ## Schon als Kind lernte sie Instrumente
       
       In der Nähe von Bristol aufgewachsen, lebte Lyndsey Cockwell 18 Jahre in
       London, bevor sie 2008 nach Berlin kam. Literatur hatte sie studiert und
       sich mit zahlreichen Jobs als Texterin und Journalistin über Wasser
       gehalten. Ihre wahre Leidenschaft galt immer der Musik. Schon als Kind
       lernte sie Klavier, später Gitarre, Bass und Zither, außerdem
       experimentierte sie mit elektronischen Gagdets und Mehrspurgeräten.
       
       Sie liebte Popmusik über alles, komponierte selbst Songs, war in
       zahlreichen Singer-Songwriter-Projekten aktiv und veröffentlichte eigene
       Alben. Von der Musik konnte sie jedoch vor allem in London nie leben. An
       Berlin begeisterte sie die Möglichkeit, sich dank des damals hier noch
       günstigen Leben endlich auf die Musik konzentrieren zu können.
       
       Inspiriert von der britischen Bewegung der Community Choirs, gründete sie
       2009 den Berlin Pop Choir. Das Konzept ist denkbar einfach: Alle sind
       willkommen, ohne Notenkenntnisse, ohne besondere Vorerfahrung, ohne
       Aufnahmeprüfung. Jeder kann singen – das war Lyndsey Cockwells Maxime.
       Anwesenheitspflicht gab es beim Pop Choir nicht, man konnte an einem
       kompletten zehnwöchigen Kurs teilnehmen oder auch nur an ein paar Abenden.
       
       Zum Abschluss gab es dann mehrmals im Jahr eine fulminante Show im Monster
       Ronson’s. Ein Chor, abseits der oft formellen Atmosphäre etablierter Chöre
       – nichts musste perfekt sein, kein Anspruch erfüllt werden, dafür sprang
       die Energie der Sängerinnen und Sänger sofort auf das Publikum über.
       
       Der Pop Choir traf einen Nerv. Was als kleine, vorwiegend queere Gruppe im
       Wohnzimmer ihrer Freundin begonnen hatte, wuchs schnell, sodass der Chor
       ein Jahr später ins Monster Ronson’s umzog.
       
       Dort drängelten sich am Ende mehr als 150 Leute auf den Chorproben. Lyndsey
       Cockwell stellte sich zeitweise während der Probe mit ihrer Gitarre auf
       einen Tisch, um in der Menschenmenge gesehen zu werden. Um weiter als
       eigenständige Musikerin wahrgenommen zu werden, spielte sie auch solo
       eigene Songs auf den meist rappelvollen Shows und hatte mehrere
       Bandprojekte neben dem Chor.
       
       ## Pro7 lud sie zu „The Voice of Germany“ ein
       
       Nach einigen Jahren war klar: Der Pop Choir ist ihr Ding. Sie gründete
       parallel einen zweiten, etwas kleineren und professionelleren Chor, das
       Berlin Pop Ensemble. Machte eine Chorleiterinnenausbildung, gab
       Gesangstunden und Wochenendworkshops. Von der queeren, feministischen Szene
       bis zum Berliner Mainstream war sie bestens vernetzt. Pro7 lud Cockwell und
       Chormitglieder ein, für die Show „The Voice of Germany“ Background zu
       singen.
       
       Ein weiterer TV-Auftritt folgte bei der Show „Klein gegen groß“. Der Pop
       Choir trat auf der Fusion auf, bei der Fête de la Musique, bei den East
       Side Music Days und auf ungezählten Berliner Musikfestivals. Sang bei einem
       Flashmob in der U-Bahn und in der Tram. Die Monster-Ronson’s-Bühne wurde
       irgendwann zu klein für die rund 200 Showmitwirkenden, sodass man für die
       Auftritte ins Lido und ins SO36 umzog.
       
       Noch im letzten Jahr synchronisierte Cockwell zusammen mit Chormitgliedern
       eine Gesangsszene für den Film „The Misandrists“ von Bruce LaBruce, der im
       Herbst in die Kinos kommen soll. Als der Film auf der diesjährigen
       Berlinale lief, ging es ihr schon zu schlecht, um ins Kino zu gehen.
       
       Die Sprache des Chors war Englisch, und so zog der Chor eine wilde Mischung
       aus Ex-Pats, queerer Szene, Berlinneulingen und alteingesessenen
       Berlinerinnen und Berlinern zwischen 20 und 60 an. „Mach einfach dein Ding,
       und tu so, als ob du’s kannst.“ Das gab sie ihren Sängerinnen und Sängern
       mit auf den Weg, wenn die sich mal wieder vor Lampenfieber nicht auf die
       Bühne trauten. Und mit dieser inneren Gelassenheit hat sie selbst gelebt.
       Sie hinterlässt ihre Lebensgefährtin Linda, die sie noch im Februar
       geheiratet hatte.
       
       19 Aug 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rebecca Maskos
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Queer
 (DIR) Funk
 (DIR) Fotografie
 (DIR) taz.gazete
 (DIR) Queer
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
 (DIR) Intersektionalität
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Vulfpeck in Berlin: Da schwitzt du dir nen Wolf
       
       Die US-Funkband Vulfpeck – sprich: Wolfpack – überzeugt live mit
       Virtuosität. Fast glaubte man, die Jackson Five seien zurück.
       
 (DIR) Ausstellung zur Zeitschrift „Sibylle“: Kultivierte Randständigkeit
       
       In Rüsselsheim hat die Schau „Sibylle – die Fotografen“ eröffnet. Die
       Zeitschrift war viel mehr als eine alltags-praktische Frauenzeitschrift.
       
 (DIR) Festival in Berlin: „Was kann die Welt daraus lernen?“
       
       Neuverortung ist das Thema des genreübergreifenden deutsch-türkischen
       Festivals „disPlaced – rePlaced“ in Berlin. Wir sprachen mit Kuratorin İpek
       İpekçioğlu.
       
 (DIR) Kritik an der queerfeministischen Szene: Queere Maulkörbe
       
       Die queerfeministische Autorin Patsy l’Amour laLove hat mit „Beißreflexe“
       eine scharfe Kritik an ihrer eigenen Szene vorgelegt. Dafür wird ihr
       gedankt und gedroht
       
 (DIR) Forscherin zu Gender und Kolonialismus: „Es wird aber niemals reichen“
       
       Patricia Purtschert ist Schweizerin, Forscherin – und Bergsteigerin. Sie
       spricht über Rassismus, feministische Nervensägen und Verneinung.
       
 (DIR) Berliner Szene vor dem Frauenkampftag: Notwendiges Räumeschaffen
       
       Feministische Gruppen gibt es viele. Nur sind sie oft homogen. Wie arbeiten
       Weiße, Schwarze, Queere und Behinderte zusammen? Eine Exkursion.