# taz.de -- Myfest in Berlin-Kreuzberg: Von Touris, Edeleltern und Gözleme
       
       > Zehntausende drängen sich auf dem Fest: Es gibt gutes türkisches Essen,
       > Musik und junge Menschen, die über Eigentumswohnungen reden.
       
 (IMG) Bild: Eine Sause auch für Kinder und junge Familien: das Myfest auf dem Mariannenplatz
       
       Würde man einen extraterrestrischen Beobachter ausgerechnet am 1. Mai zur
       Kreuzberger Oranienstraße schicken – er würde wahrscheinlich diese Welt
       nicht einmal ansatzweise verstehen. Warum drängen sich hier Menschen aus
       allen Kulturen dieses Erdballs durch die Häuserschluchten, unterhalten sich
       über die gestrige Nacht, über die Qualität des Drinks, den sie gerade in
       der Hand halten und die schicke Eigentumswohnung, die sich gerade eine
       Freundin ums Eck gekauft hat?
       
       Warum stehen vor den Läden links und rechts die letzten „Ureinwohner“
       dieses Quartiers, die sich vor über einem halben Jahrhundert aus der Türkei
       auf den Weg machten, um hier ein besseres Leben zu finden? Warum haben sie
       sich heute, zur Feier des Tages, noch einmal in die Trachten geworfen, wie
       man sie in dem Land, aus dem sie kamen, schon kaum mehr trägt?
       
       Warum verkaufen sie den Menschen mit den Drinks und den Eigentumswohnungen
       Essen zu kleinen Preisen, von dem nur diese glauben, es sei typisch für die
       Region, aus der sie stammen?
       
       ## Ziemlich voll
       
       Es ist das 15. Myfest in Kreuzberg an diesem im Vergleich zu den Vortagen
       ungewohnt sonnigen und warmen 1. Mai – und schon am späten Mittag ist es
       ziemlich voll auf der Oranienstraße und dem Mariannenplatz, dass man meint,
       die Loveparade sei reanimiert worden, wenn auch am völlig falschen Ort und
       zum völlig falschen Zeitpunkt natürlich.
       
       Die Idee, eine Gegend mit Brot und Spielen zu überziehen, um den sonst
       traditionellen Ausschreitungen am 1. Mai in diesem Gebiet entgegenzuwirken:
       Sie funktioniert noch immer, wenn es auch nach ersten Einschätzungen
       langjähriger Besucher weniger voll ist als in den Vorjahren.
       
       Auf dem Mariannenplatz richtet sich alles vor allem nach der jungen
       Familie: Es gibt mobile Buddelplätze, Luftballontrauben, aber auch
       Luftballons für umsonst, auf denen dann so etwas wie „Die Linke“ steht. Wer
       gern seine Vorurteile gegenüber jungen Familien pflegt, wie sie sich etwa
       in Prenzlauer Berg ballen, der kann auch hier auf seine Kosten kommen.
       
       Ein Vater mit langem Bart etwa findet es „nicht okay“, dass die Freundin
       mit der Bomberjacke der gemeinsamen Tochter eine Fanta gekauft hat.
       
       Eine Familie mit drei Töchtern und Kinderwagen, Laufrad und Kinderrad im
       gehobenen Preissegment: Die Mutter erzählt gerade von der bevorstehenden
       Einschulung der Ältesten, und wie schwer es gewesen sei, auf die
       Waldorfschule zu kommen, um die Einzugsschule mit dem hohen
       Migrationsanteil zu vermeiden.
       
       Eine dritte, die in der Zeitung Jennifer heißen will, stellt sich als
       angehende Flugbegleiterin vor und jammert ein wenig über ihre monatlichen
       Mehrausgaben, seit sie ein Au-pair hat, um die Selbstverwirklichung zu
       schaffen. Wie hat sie ihrem Sohn erklärt, warum hier gefeiert wird?
       „Schwierig“, lächelt sie. „Ich habe ihm von der Arbeiterbewegung erzählt,
       aber er wusste ja nicht einmal, was eine Fabrik ist.“
       
       ## Selfies auf Bockleitern
       
       Vieles ist wie immer auf dem Myfest, und nicht alles ist unsympathisch:
       Eine Bockleiter steht mitten auf der Oranienstraße, sie steht dort seit
       Jahren, heißt es, und ihr Besitzer verlangt pro Person einen Euro, damit
       man oben ein Selfie macht, das wirkt, als schwebe man über der Menge.
       
       Überall Nebelschwaden vom allgegenwärtigen Köfte, überall überlaute Musik
       aus den Bars, die aus den Fenstern Bier und Caipirinha verkaufen. Menschen,
       die sich auf Spanisch, Italienisch, Japanisch, Englisch und Finnisch
       miteinander unterhalten. Ein Volksfest halt, auf dem es um Essen geht und
       um Trinken, um Sehen und Gesehenwerden.
       
       Am Mariannenplatz Höhe Waldemarstraße ist es eigentlich am nettesten. Auf
       der Bühne gibt es tolle, hypnotische, türkische Musik mit Tanz vor der
       Bühne, bis es in den Ohren klingelt, eine ältere Dame mit Kopftuch sitzt am
       Bordstein und knackt ungerührt Nüsse, als wäre nichts. Nebenan gibt es die
       ultimative Gözleme-Show.
       
       Das zur Info für die eingangs erwähnten extraterrestrischen Beobachter: Bei
       Gözleme handelt es sich im Unterschied zu den allgegenwärtigen Köfte, die
       aus teurem Rinderhack bestehen, um echte Arme-Leute-Kost. Sie werden in der
       ländlichen Türkei bis heute unter der Woche gern gegessen: viel Teig, wenig
       Füllung, dafür schmackhaft.
       
       ## Teig zu Kugeln
       
       Vor einem Stand stehen fünf Frauen zwischen 30 und 80 Jahren. Die älteste
       portioniert und formt den Teig in aller Seelenruhe zu Kugeln, die nächsten
       beiden wellen ihn aus, die vierte füllt die Fladen, die fünfte kassiert,
       reicht die ungebackenen Gözleme an den Bäcker weiter und nimmt die
       gebackenen entgegen, um sie an die Kunden weiterzureichen, die in einer
       langen Schlange warten. Ein Gözleme kostet hier 2 Euro.
       
       Leider verraten die Damen nicht, wie viel Umsatz sie am Ende des Tages
       erwarten.
       
       Ganz am Ende übrigens, kurz vorm Kottbusser Tor, passiert dann doch noch
       etwas, das als spektakulär bezeichnet werden könnte. Ein ganzer
       Hähnchengrill steht in Flammen. Der Meister hatte wohl die Sache mit dem
       Ablöschen nicht ganz im Griff. Ein paar junge Leute Mitte zwanzig mit
       Rucksäcken, auf denen „Kick my Airs“ steht, bleiben stehen. Sie lachen,
       machen Handyfotos.
       
       Der kleinste von ihnen sagt, er habe sich diese Sache mit den brennenden
       Barrikaden dann doch ein wenig anders vorgestellt.
       
       1 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Messmer
       
       ## TAGS
       
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