# taz.de -- Über das Leben eines Einsiedlers: Vom Wald in den Knast und zurück
       
       > Hans-Georg Baermann lebte 20 Jahre im Wald, klaute Essen und ging 20
       > Jahre ins Gefängnis. Kann man dieses Leben wirklich verurteilen?
       
 (IMG) Bild: Trinkwasser findet sich in Seen wie diesen
       
       „Was gibt es denn über mein Leben zu erzählen, es ist doch unspektakulär.“
       Hans-Georg Baermann* sagt solche Sätze, weil er so denkt. Manche, die es
       hören, schütteln den Kopf: War das jetzt Spaß oder bitterer Ernst? Mehr als
       20 Jahre saß Hans-Georg Baermann wegen hundertfachen Einbruchs hinter
       Gittern. Geklaut hatte er aber nur Milch, Kekse und Tabak, nie etwas von
       Wert. Die anderen Jahre, jene, die er lebte, wenn er gerade nicht im
       Gefängnis war, schlug er sich auf der Flucht vor der Gesellschaft durch die
       Wälder. Und das ist unspektakulär?
       
       Im Jetzt, im Heute, ist Hans-Georg Baermann ein alter Mann im Pflegeheim:
       Rollator, Rollstuhl, Griffe am Bett. Sein Zimmer: das Meisterstück eines
       Innenarchitekten, der versucht hat, das Innere einer Depression räumlich
       abzubilden.
       
       Aber von vorne: Hans-Georg Baermanns Leben beginnt unter Vorzeichen, die
       wenig vielversprechend sind. Am 12. Mai 1939 wird er in Leverkusen geboren,
       elf Tage später verkündet Hitler, dass er beabsichtige, so schnell wie
       möglich Polen zu überfallen. Es folgt: der alles fressende Krieg.
       
       ## Daheim
       
       Als der vorbei ist, der 77-Jährige erinnert sich kaum, beginnen die
       Familien – auch die von Hans-Georg Baermann –, die Trümmer ihrer Häuser und
       ihrer alten Existenzen zu beseitigen. Neue Fundamente sollen gelegt werden.
       Bei den Baermanns gelingt das nicht richtig, denn der Vater stirbt, als
       Hans-Georg elf ist. Seine Mutter, nun völlig allein mit den zwei Kindern,
       verzweifelt. Sie beginnt mit dem Trinken. Fortan teilen sich die Kinder die
       Aufmerksamkeit mit dem Alkohol.
       
       Baermann schließt die Hauptschule noch ab, 1954 ist das, und beschließt
       dann, weil ihm jede Art von Zuneigung fehlt, dass es besser ist, wenn er
       sich selbst um sich kümmert. Seine Schwester bittet ihn, zu Hause zu
       bleiben. Er hört nicht auf sie und läuft davon.
       
       „Ich habe mir als Erstes Arbeit gesucht“, sagt Hans-Georg Baermann und
       streicht sanft über die karierte Tagesdecke auf seinem Bett. „Ich war noch
       jung, vielleicht 16, aber damals hat das keinen interessiert.“ Er durfte
       direkt für einen Fuhrunternehmer in der Region Holz ausfahren. Schwere
       Arbeit. „Irgendwann kannte ich die Gegend dadurch aber eben sehr gut“, sagt
       er. Das wird später im Leben noch wichtig werden.
       
       „Geld gab es nicht viel, vielleicht 200 Mark?“, sagt der 77-Jährige, dessen
       wenige Haare sich farblich nicht mehr von den kalten Stellen abheben, außer
       man blickt gegen das Licht. „An den Wochenenden haben wir in unserer Gruppe
       immer so Sachen gemacht“, sagt er. Sachen? „Ja, irgendwer hatte ein Auto,
       lud die Mädchen ein, es waren ja die Sechziger.“ Tanzen, Bluejeans. Elvis.
       Besatzungssoldaten. Aber Abend für Abend rückt dabei eine Frage in den
       Vordergrund: Wie kann ich mir das alles überhaupt leisten?
       
       „Ich hatte kaum Geld. Ich hatte zwar Arbeit, aber keine Ausbildung. Nichts.
       Die Mädchen waren als Sekretärinnen beim Rechtsanwalt tätig“, sagt
       Hans-Georg Baermann, „meine Freunde hatten richtige Jobs. Dann hieß es
       immer: Hans-Georg, kommst du am Freitag wieder mit?“ Aber Hans-Georg kann
       nicht mitkommen. Er will auch nicht. Nachdem ihm ein Freund irgendwann 50
       Mark als Almosen zugesteckt hat, was ihm peinlich gewesen ist, gerade vor
       den Mädchen, da schwört er sich: Du wirst dich nie wieder einladen lassen,
       Hans-Georg. Nie wieder! Er tut also das, was er schon vorher geübt hat:
       weglaufen, den Kontakt abbrechen.
       
       Jahrzehnte später wird ein Gutachter vor Gericht feststellen, dass
       Hans-Georg Baermann eine tief sitzende Angst vor Menschen und ihrer
       Gesellschaft hat. Aber: Da sind wir noch nicht.
       
       Als der Fuhrparkunternehmer ihn rausschmeißt, die Gründe kenne er nicht,
       arbeitet er zeitweise als Dachdeckergehilfe, sagt Hans-Georg Baermann. Noch
       weniger Geld, noch härtere Arbeit. Seine Schwester bekniet ihn: Komm
       zurück! Und er kommt und findet alles beim Alten vor: seine Mutter, den
       Alkohol. Trauer. Wut. Tiefe Enttäuschung. Er geht erneut, bricht den
       Kontakt ab, wird nie wieder zurückkehren. Ab jetzt heißt es: Hans-Georg
       Baermann gegen den Rest der Welt. Er hatte der Welt quasi noch eine Chance
       gegeben. Aber sie hatte ihn enttäuscht.
       
       ## Im Wald
       
       „Ich wusste nicht, wohin“, meint er und stellt den Fernseher leiser, in dem
       gerade jemand versucht, ein neunteiliges Kochset an den Mann zu bringen.
       Shoppingkanal, 199 Euro. „Also lief ich in den Wald und dachte: So, hier
       bleib' ich jetzt.“ Vermutlich hat sich so etwas jeder schon mal gedacht,
       aber bei Hans-Georg Baermann bleibt es nicht beim Denken. Die ersten Tage
       schlägt er sich passabel: „Ich suchte mir eine abgelegene Stelle, in der
       Nähe lag ein Bach, darauf hatte ich geachtet“, erzählt er. „Aber das Wasser
       war sandig und nicht zu genießen.“
       
       Er steckt sich ein paar Lakritze aus der Tüte, die er im Schränkchen neben
       dem Bett hat, in den Mund. Obwohl sein Arzt doch gesagt hat, er solle keine
       Lakritze mehr essen – wegen des Blutdrucks. „Ein paar werden wohl nicht
       schaden“, sagt er und gibt zu bedenken, dass er in körperlich bester
       Verfassung sei durch die harten Jahre in der Wildnis. Ein paar Lakritze
       seien da wohl drin. Und irgendwas, sagt Hans-Georg Baermann, werde man ja
       wohl noch selbst entscheiden dürfen.
       
       Der Sommer 1968 endet, die Hippie-Bewegung erreicht mit Woodstock ihren
       Höhepunkt. Davon kriegt Hans-Georg Baermann, 28, nichts mit. Sein Problem
       ist im wahrsten Sinne des Wortes anderer Natur: Er hatte stets versucht,
       sich aus dem Wald zu ernähren, was nicht ging. Das Wasser im Bach etwa
       hatte er durch Kaffeefilter geleitet, die er sich in einer Siedlung
       besorgte. „Besorgt“ war nicht das richtige Wort: Er hatte sie geklaut,
       genau wie den Kaffee, die Milch, die Packung Kekse, die Taschenlampe, die
       Konserven.
       
       Natürlich ist es Unsinn, nur vom Wald leben zu wollen, das weiß auch
       Hans-Georg Baermann. Eines Tages kommt er auf seinen Streifzügen an einer
       Lichtung mit Parkplatz vorbei – er läuft dabei kreuz und quer, damit
       niemand sein Lager findet oder seine Spuren. Die Wanderungen zu den
       nächsten Häusern dauern Stunden. Manchmal läuft Hans-Georg Baermann die
       ganze Nacht.
       
       Auf dieser Lichtung jedenfalls, an dem Parkplatz dort, stehen Ferienhäuser.
       Vor einem parkt ein Fahrzeug – der Firmenwagen einer Metzgerei. Mensch,
       denkt sich Hans-Georg Baermann, Jackpot, ob da wohl Würste und Räucherwaren
       drin sind? Er merkt schnell: Die Häuser sind nur an den Wochenenden
       bewohnt, wenn die Mieter nicht arbeiten müssen. In der Woche, nun ja,
       stehen sie leer. Verführerisch.
       
       Baermann braucht nicht lange, um einzusteigen: „Die Dinger waren kaum
       gesichert“, sagt er und isst noch ein Stück Lakritze, ein besonders großes,
       das er sorgfältig auswählt. „Ich habe mich auf zwei Dinge konzentriert:
       Keine Spuren oder Schäden machen, das wollte ich den Bewohnern nicht antun,
       und niemanden antreffen. Keine Waffen, keine Bedrohung. Ich bin ein netter
       Kerl – und ich hab nie jemanden umgebracht. Ich war nur auf der Suche nach
       Essen.“
       
       Seine Beute ist detailliert in den Akten aufgeführt: pfundweise Kaffee,
       Kekse, Fleisch, Würstchen, Brot, Eier, Milch. „Irgendwann besuchte ich
       einige Häuser doppelt, und die Leute stellten mir unter der Woche das Zeug
       sogar raus“, sagt Baermann lachend. Er nahm es natürlich nicht, hätte ja
       vergiftet sein können. Waren die Tage sehr hart oder benötigte er etwas
       Anderes dringend, dann klaute er auch mal eine warme Herrenjacke, ein
       Päckchen Tabak, Schokolade, ein bisschen Schnaps.
       
       „Die Taschenlampe musste ich klauen, weil es im Herbst so finster wurde“,
       sagt Baermann. „Ich hab‘ auch ein Radio und diverse Batterien mitgehen
       lassen – und Bücher natürlich. Ständig Bücher. Immer wenn eines ausgelesen
       war, brauchte ich ein neues. Ganz allein in der Wildnis wirst du verrückt
       und hörst schnell Stimmen.“ Er habe ja niemanden zum Reden gehabt.
       
       Ein weiterer Monat vergeht. Es wird kälter. Über Nacht ist der Herbst
       vorbeigezogen, die Pilze und Früchte des Waldes sind verschwunden.
       „Plötzlich kam der Schnee“, sagt Baermann. „Und alles war weg: nichts
       mehr. Da war dann das Gewehr meine einzige Lösung – also hab ich’s geklaut.
       Es hing in einem der Häuser, das wusste ich.“ Ein schwerwiegender Fehler,
       wie sich herausstellen sollte.
       
       Baermann war lange Zeit im Schützenverein seines Heimatdorfs gewesen. Ein
       Tier zu töten, das war mit Vorkehrungen verbunden. Eines Abends steht das
       Reh, dieses eine Reh, aber plötzlich an seinem Lager. Wie auf dem
       Serviertablett. Baermann überlegt nicht und legt an, trifft es am Kopf, es
       schleppt sich durch den Wald. Baermann hinterher, immer dem Blut nach. Er
       macht kurzen Prozess.
       
       Zurück im Lager versucht er, das Fleisch haltbar zu machen. Es ist zu viel
       auf einmal, zudem will er kein Feuer machen, um die Jäger nicht mit dem
       Lichtschein von den Hochsitzen in seine Nähe zu locken. Er beschließt, bis
       Silvester zu warten; denn Silvester, wenn die Leute Raketen schießen, da
       wird es doch nicht auffallen, wenn Hans-Georg Baermann ein Feuer macht. Er
       vergräbt das Reh im Boden, in der Hoffnung, die Kälte werde es
       konservieren. Schon nach wenigen Tagen ist das Fleisch mit grauen und
       glitschigen Stellen übersät. Und er hat Fieber, aber zum Arzt gehen kann er
       ja nicht. Er ist doch nicht mal versichert.
       
       Also beschließt Hans-Georg Baermann, dass es keinen Sinn mehr hat; dass er
       aufhören muss; dass er sich stellen wird. Das Töten hatte ihn zum
       Nachdenken gebracht: Keine Gewalt, das war immer sein Prinzip gewesen.
       Jedenfalls hatte er geglaubt, dass es sein Prinzip gewesen war – und dass
       er so etwas wie Prinzipien hatte. Baermann erschrickt vor sich selbst. Und
       er weiß: Die Kälte wird ihn sicher umbringen.
       
       Es kommt zur Gerichtsverhandlung; Baermann wird angeklagt wegen Wilderei
       und Diebstahl von Dingen in fast dreistelligem Wert mit zugehörigen
       Wohnungseinbrüchen. Obwohl er überwiegend Lebensmittel klaute, wie auch im
       Urteil erwähnt wurde. „Der Richter wusste gar nichts mit mir anzufangen“,
       sagt Hans-Georg Baermann. „Der dachte: Ich bin irgendein Verrückter. Aber
       als die Sache mit dem Reh drankam, da wurde er richtig wütend: Er war
       nämlich Jäger.“
       
       ## Im Knast
       
       Richter sprechen in einem solchen Fall von Gesetzen, die nicht zum
       Angeklagten passen – oder umgekehrt. Baermann war kein Krimineller im
       herkömmlichen Sinn: Er hatte zwar Straftaten begangen, aber mit allen
       Einbrüchen insgesamt keinen Schaden jenseits von ein paar hundert Mark
       verursacht – das Reh, nun ja, das war eben ein Kollateralschaden gewesen.
       Das Problem: Anders als heute waren das Verständnis und die Forschung zu
       Resozialisierung im deutschen Rechtssystem damals noch nicht so ausgeprägt;
       Richter konzentrierten sich stärker auf die Taten, während heute eher die
       Umstände einer Tat und die individuelle Biografie eines Täters im
       Vordergrund stehen. Man wusste nichts mit Baermann anzufangen, weil man
       nicht wusste, was man mit ihm tun sollte: wegsperren, obwohl er der
       Gesellschaft nichts getan hatte? Man tat es. Ein bisschen hilflos.
       Vermutlich hoffte man, er würde es nicht wieder tun. Fehleinschätzung.
       
       Im Gerichtsaal war es zu tumultartigen Szenen gekommen: Ein Mann, dem eines
       der Ferienhäuser gehörte, saß während der Verhandlung auf der
       Zuschauerbank. Baermann schildert, wie der Mann plötzlich aufstand und
       sagte, er wolle seine Anzeige zurückziehen. „Der Richter war irritiert“,
       sagt Baermann. „Aber der Hausbesitzer schämte sich und sagte: Dieser Mann
       ist kein böser Mensch, er hat mein Haus nicht zerstört, meine Familie nicht
       bedroht – und auf die paar Würste und den Kaffee werde ich, der Besitzer
       eines eigenen Ferienhauses, gerade noch verzichten können.“
       
       Einige Geschädigte sind anders gestrickt. Sie hatten Elektrogeräte außer
       Haus gebracht und sie im Wald versteckt, um es Baermann anzuhängen. Die
       Polizei deckte den Versicherungsbetrug auf. Baermann hingegen kann man bis
       auf die paar Liter Milch, den Tabak, die Jacke, die Taschenlampe, die
       Wilderei und das Radio nichts nachweisen. Trotzdem summieren sich die Taten
       und Strafen, weil es so viele waren. Am Ende: sechseinhalb Jahre Gefängnis.
       Ohne Bewährung. In Handschellen verlässt Baermann den Saal.
       
       Der frischgebackene Häftling weiß nicht, was „gute Führung“ bedeutet oder
       „mildernde Umstände“. Seine erste Haftstrafe sitzt er größtenteils in der
       Justizvollzugsanstalt Wilhelmshaven ab. Baermann erinnert sich an die
       Möwen. „Das war sehr schön, wenn sie einen morgens weckten“, sagt er. „Und
       dann war es gleichzeitig wieder nervig.“ Das Meer konnte man nicht riechen.
       Das hatte er gehofft. Da war die Hotelbeschreibung wohl falsch gewesen.
       
       Drei Tage legt man seine Klamotten vor die Zelle auf einen Stuhl im Gang.
       Nach drei Tagen gilt der „Gefängnisschock“ als überstanden; die Wärter
       fürchten, dass sich Häftlinge mit ihrem Gürtel oder einem T-Shirt erhängen.
       Hans-Georg Baermann hat das nicht vor.
       
       Denn im Knast ist er plötzlich ein gefragter Mann. Die anderen Häftlinge
       verstehen schnell, dass sie bei dem Neuen auf Gold gestoßen sind: „Ich hab'
       viele Anfragen bekommen“, sagt Baermann grinsend und reibt sein Bein, weil
       das Sitzen schmerzt. „Alle fragten mich, ob ich, wenn ich raus bin, für
       Jobs zur Verfügung stehe.“ Jemand, der die Erfahrungen von Hunderten
       Einbrüchen hat, mit dem wollen sie alle, klar. „Aber ich hielt mich fern“,
       sagt Baermann. „Ich wollte keinen Ärger, meine Strafe absitzen und
       arbeiten.“
       
       Also geht Baermann arbeiten. Beteiligt sich. Er hilft zunächst in der
       Bäckerei aus und macht später Küchendienst. In seiner Freizeit brennt er
       mit den anderen Häftlingen Schnaps. Heizspirale aus der alten
       Kaffeemaschine ausbauen, die sie auf der Zelle hatten, Wasser durchlaufen
       lassen, fertig. „Schmeckt aber wirklich ganz, ganz fürchterlich“, sagt
       Baermann, schüttelt sich und lacht, als gehöre Schnapsbrennen irgendwie zum
       Erwachsenwerden. Er hebt den Zeigefinger: „Kloppt aber total in den Kopp!“
       
       Für den Schnaps sammelt Baermann auf dem Hof das herabgefallene Obst ein:
       „So kriegst du aus einem Eimer mit 20 Litern Brühe fast ein Gefäß Alkohol,
       so groß wie eine Ketchup-Flasche.“ Die Knastleitung ist auch nicht gerade
       dumm und nimmt den Häftlingen alles wieder ab. Die, die es nötig haben,
       trinken danach Rasierwasser. Baermann nicht. Er kooperiert mit dem Personal
       – und verhält sich ruhig.
       
       „Nach sechseinhalb Jahren kam ich dann raus, stand mit meinem Pappkarton
       und den paar Dingen, die ich besaß, vor der Gefängnismauer“, sagt Baermann.
       „Ich hatte die gesamte Strafe abgesessen, und, wie ich heute weiß, deshalb
       auch keinen Bewährungshelfer. Niemand gab mir Tipps. Und. Na ja …“ Er
       schaltet die Dokumentation im Fernsehen aus – das Leben der
       Alaska-Seelachse vor der Zeit als Fischstäbchen, frei und jung und voller
       Glück. „Dann bin ich eben wieder in den Wald. Was sollte ich denn machen.
       Von Sozialhilfe oder so wusste ich nichts.“
       
       Bis ins Jahr 2000 sitzt Hans-Georg Baermann im Wald und dann wieder im
       Gefängnis. Wald. Und Gefängnis. Manchmal wollte er gar nicht früher raus,
       weil er wusste, dass er draußen wieder in der Wildnis kämpfen müsste. Da
       blieb er dann lieber im Gefängnis. 32 Jahre ging das so. Die meiste Zeit
       davon ist in Akten dokumentiert. Einiges fehlt. Auch Bilder seiner
       Kindheit, Details, wann er wo war, das hat er in der Zeit seines
       Nomadenlebens unterwegs verloren.
       
       Seine letzte Verurteilung aus dem Jahr 2000 wird zur Bewährung ausgesetzt:
       Hans-Georg Baermann sei „allein, hilflos und lebensunfähig“, habe
       „Schwierigkeiten, Behördengänge zu erledigen“. Er findet einen Begleiter,
       seinen Rechtsanwalt, den er sehr gern hat. Außerdem, sagen die Richter,
       habe Baermann nun genug Strafe abgesessen, es sei völlig überzogen, einen
       Menschen wegen derlei geringen Schadens so lange einzusperren – überzogen
       im Sinne der Resozialisierung.
       
       ## In Freiheit
       
       Hans-Georg Baermann, 77, tritt ans Fenster. Er kriegt wenig Besuch, aber er
       wollte selbst hierher ins Heim. Allein in einer Wohnung, das traute er sich
       nicht mehr zu. Vor seinem Fenster ist nicht der Wald, kein sattes Grün oder
       der Geruch von Bäumen und feuchtem Moos. Es sind nur viele weitere Fenster,
       mit weiteren Zimmern des Pflegeheims, die genauso aussehen und in denen
       Leute vor dem Fernseher sitzen. „Heute bin ich sehr dankbar“, sagt Baermann
       leise. „Hätte ich früher gewusst, welche Leistungen mir der Staat stellt,
       ich hätte mein Leben anders geführt. Ich war ein Idiot.“
       
       Er dreht sich um, milde lächelnd, der Mund ein Strich. Fröhlich oder
       traurig?
       
       „Manchmal denke ich“, sagt Hans-Georg Baermann, „wenn ich hier meine
       Essensration kriege, mich abmelden muss, wenn ich in die Stadt möchte, die
       kranken Leute sehe, die Pfleger mir sagen, was gut für mich ist, und ich
       stundenlang allein in meinem Zimmer sitze und an die Decke starre: Ist
       dieser Ort nicht auch ein Gefängnis?“ Dann, sagt er, würde es aber sein
       letztes sein.
       
       * Name geändert
       
       4 Mar 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Alexander Krützfeldt
       
       ## TAGS
       
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