# taz.de -- Tod von Sibylle Boden-Gerstner: Und dabei blieb sie
       
       > „Sibylle“ war die wichtigste Zeitschrift für Mode und Kultur in der DDR.
       > Ihre Gründerin war zeit ihres Lebens elegant und kritisch.
       
 (IMG) Bild: Die Ausstellung zur Zeitschrift „Sibylle“ in der Kunsthalle Rostock
       
       Berlin taz | „Ja, ja, wie immer“, hat Sibylle Boden-Gerstner noch zu ihrer
       Tochter gesagt. Das war kurz vor Weihnachten. Es ging um ihr
       Balenciaga-Kleid, das altrosafarbene Samtkleid mit den Perlmuttknöpfen und
       den gesteppten Rockschößen. Seit über siebzig Jahren trug Boden-Gerstner
       das bodenlange Haute-Couture-Stück, immer am Weihnachtsabend. Ihre Tochter
       hängte es Mitte Dezember schon mal heraus. Doch dann machte sich die Mutter
       ans Sterben. Am 25. Dezember ist sie schließlich eingeschlafen, mit 96
       Jahren.
       
       Die Frau, die nun in den nächsten Tagen auf dem Friedhof von Kleinmachnow
       bei Berlin beerdigt wird, war eine Jahrhundertzeugin. Sie war Journalistin,
       Künstlerin, Schöngeist. Sie war Kommunistin, Mutter, Psychiatriekritikerin.
       Sibylle Boden-Gerstner war eine Institution. Eine, wie es sie nur ein paar
       Mal gab in der DDR. Dort arbeitete Boden-Gerstner als stellvertretende
       Chefredakteurin der Sibylle, der „Zeitschrift für Mode und Kultur“. 1956
       erschien die erste Ausgabe, im Impressum steht ihr Name gleich hinter dem
       des Chefredakteur. Zuvor hatte sie dem Dummy des Magazins ihren Vornamen
       geliehen – es sollte 39 Jahre lang dabei bleiben.
       
       Die Sibylle war eine rare ästhetische Nische. Frei von Verwertungsdruck,
       kümmerten sich die RedakteurInnen um alles: von den Entwürfen und
       Schneiderarbeiten bis hin zu den Fotos, dem Make-up für die Models und den
       Texten. Alle zwei Monate wurden 200.000 Exemplare gedruckt, sie waren im Nu
       vergriffen.
       
       Für die Sibylle arbeiteten die besten Fotografen und Couturiers, die
       schönsten Models. Anders als andere Magazine ging es der Sibylle-Redaktion
       nicht um praktische, gar pfiffige Alltagskleidung für die Frau an der
       Werkbank. Die zeigten Individualistinnen, Intellektuelle in mitunter
       großartigen Roben. Viele schienen ein Geheimnis zu bergen. Dafür liebten
       die Leserinnen das Blatt.
       
       „Vogue des Ostens“ wird die Sibylle heute manchmal genannt. Die sie gemacht
       haben, empfinden das als vergiftetes Lob – sie machten nicht nach, sondern
       vor. Die Gründerin dieses Flaggschiffs der Coolness war: Sibylle
       Boden-Gerstner.
       
       Als im Herbst 1956 die erste Ausgabe erscheint, ist sie Mitte dreißig.
       Tatsächlich gelebt hat sie – die Breslauer Jüdin, Exilantin, Studentin in
       Berlin, Wien und Paris, Malerin, Kostümbildnerin – da schon weit mehr als
       nur ein Leben. Eine leitende Redakteurin, die braucht vor allem:
       Lebenserfahrung und einen sehr weiten Horizont.
       
       Weltoffenheit statt Piefigkeit 
       
       Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis von Sibylle 1/56 zeigt, was
       Boden-Gerstner darunter versteht. „Wir sahen in Paris“, lautet der Titel
       der Fotoreportage von den Couture-Schauen. Im weiteren Blattverlauf folgen
       „Bestrickendes aus aller Welt“, „Rendezvous in Warschau“ oder „Berlin trägt
       Saris“. Sibylle Boden-Gerstner, die Frau für Kunst und Modisches, weigerte
       sich offenbar strikt, linke Gesinnung mit Piefigkeit gleichzusetzen.
       
       Drei Jahre blieb sie stellvertretende Chefredakteurin. Sie ging, nachdem
       ihre Blattkonzeption als „zu französisch“ kritisiert worden war. In einem
       Interview sagte sie 2013 über ihre Sibylle-Jahre: „Das Magazin trug meine
       Handschrift, und dabei blieb ich.“
       
       Wobei sie blieb – das waren weltläufige Eleganz, Stilempfinden, der Sinn
       für Luxus in einer Zeit, die dieses Wort nahezu verlernt zu haben schien.
       Mit einem Leben hinter sich, das weit mehr Brüche und Konflikte kennen
       sollte als die Frage, welche Handtasche zu welchem Schal passt.
       
       Im August 1920 wird Sibylle Boden in Breslau geboren. Die Tochter eines
       Pelzhändlers gilt als „jüdischer Mischling“. 1936, da ist sie sechzehn
       Jahre alt, beginnt sie in Berlin an der Textil- und Modeschule zu
       studieren, anschließend Malerei und Illustration. Sie ist Opfer der
       Nürnberger Rassegesetze, das Leben in Deutschland wird unerträglich. 1940
       holt sie ihr späterer Mann, Karl-Heinz Gerstner, illegal nach Paris, wo er
       in der Wirtschaftsabteilung der deutschen Botschaft arbeitet. In Paris kann
       Sibylle Boden weiter Malerei studieren. Für eine Amsterdamer Presseagentur
       berichtete sie von den Pariser Modenschauen. Das Balenciaga-Kleid hat sie
       von dort später nach Berlin mitgenommen.
       
       „Die Modelle wurden manchmal nach den Schauen verkauft“, erzählt ihr
       Tochter, die Publizistin Daniela Dahn. Seither, also seit mehr als siebzig
       Jahren, wurde im Haus Boden-Gerstner kurz vor Weihnachten das samtene
       Wunder aus dem Schrank geholt. Hat es ihr denn gepasst? „Ja“, sagt Dahn,
       „meine Mutter war sehr schlank, aber eigentlich zu klein für das Kleid. Da
       hat sie den Saum kürzen lassen und es jedes Jahr an Heiligabend angezogen.
       Auch letztes Jahr noch, da war sie fünfundneunzig.“
       
       Sibylle, die Autorin 
       
       Ab 1949 arbeitet Sibylle Boden-Gerstner als Kostümbildnerin. Die Defa, das
       Filmunternehmen der jungen DDR, engagiert sie unter anderem für die
       Fallada-Verfilmung „Wolf unter Wölfen“. Ab Ende der Fünfziger – nach ihrer
       Sibylle-Zeit – verdient sie ihr Geld erneut als Kostümbildnerin. Aber auch
       als Dolmetscherin – und als Autorin.
       
       1981 veröffentlicht sie unter dem Pseudonym Sibylle Muthesius ein
       aufsehenerregendes Buch. In „Flucht in die Wolken“ versammelt Sibylle
       Boden-Gerstner Gedichte, Tagebucheinträge, Briefe und Malereien ihrer
       jüngeren Tochter Sonja. Sonja, an einer Psychose erkrankt, hatte sich 1971
       selbst getötet. Das sensible, begabte Mädchen wurde nur 19 Jahre alt. Ein
       schwerer Schock. Sibylle Boden-Gerstner setzte ihm dieses Buch entgegen.
       
       Über Nervenerkrankungen war bis dahin in der DDR laut geschwiegen worden.
       Mit ihrem Buch gewährte Sibylle Boden-Gerstner nicht nur Einblick in die
       Gedanken und Gefühle ihrer verstorbenen Tochter. Sie sorgte auch dafür,
       dass endlich über die Bedingungen in den psychiatrischen Kliniken des
       Landes gesprochen werden durfte.
       
       Zuletzt lebte sie bei ihrer Tochter Daniela. „Man soll nicht so viel über
       sich selbst reden“, steht am Ende des Editorials der ersten
       Sibylle-Ausgabe. Über Sibylle Boden-Gerstner, die Frau, die die wichtigste
       Zeitschrift für Mode und Kultur konzipiert hat, wurde eigentlich stets zu
       wenig gesprochen. Noch ganz kurz vor ihrem Tod wurde in der Rostocker
       Kunsthalle eine große Sibylle-Ausstellung eröffnet. Die Gründerin war
       selbstverständlich eingeladen. In dem dazugehörigen Prachtband findet sich
       ein Porträt von ihr. Gekommen ist sie nicht.
       
       Ihre Tochter Daniela hat da schon gespürt, dass das Leben ihrer Mutter bald
       enden könnte. Zwei Tage vor Weihnachten kam dann in Berlin das Paket mit
       dem Sibylle-Band an. Die Tochter hat es ihr noch gezeigt. „Sie hat da schon
       nicht mehr gesprochen. Aber sie hat drauf geguckt, und in ihrem Gesicht war
       ein Staunen zu sehen. Vielleicht war dieses Buch die letzte freudige
       Neuigkeit in ihrem Leben.“ Das Balenciaga-Kleid hat sie nicht mehr
       getragen.
       
       30 Dec 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anja Maier
       
       ## TAGS
       
 (DIR) taz.gazete
 (DIR) Mode
 (DIR) DDR
 (DIR) Zeitschriften
 (DIR) taz.couture
 (DIR) Wortkunde
 (DIR) Romanverfilmung
 (DIR) Punks
 (DIR) Museen
 (DIR) Literatur
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Nachdenken über Mode: Was ist Eleganz?
       
       Elegant ist man nie, wenn man es sein soll. Nie auf Kommando. Eleganz ist
       flüchtig und ungehorsam. Gedanken zu einem großen Begriff.
       
 (DIR) Neues Mode-Wort aus Dänemark: „What's hyggin?“
       
       Die angelsächsische Sphäre hat einen neuen Neologismus – „hygge“, das
       dänische Wort für „gemütlich“. Es fördert Konsum wie Eskapismus.
       
 (DIR) Neue Austen-Verfilmung im Kino: Starke Heldinnen, männliche Blödheit
       
       „Lady Susan“ ist ein eher unbekannter Briefroman von Jane Austen. Als „Love
       & Friendship“ kommt er jetzt auf die Leinwand.
       
 (DIR) taz-Serie Verschwindende Dinge (1): Dem Punk fallen die Haare aus
       
       Kunterbunter Iro, Nietengürtel, Sicherheitsnadel in der Wange? Vom Punk ist
       heute nicht mehr viel übrig – und auch der Nihilismus der 80er ist nicht
       mehr angesagt.
       
 (DIR) Winter-Ausstellungen in Hamburg: Zweimal in die Eiszeit und zurück
       
       Passend zur Jahreszeit locken zwei Hamburger Museen mit Ausstellungen, die
       in die kalten Gefilde führen. Einmal geht es zurück in die Eiszeit, ein
       andermal rund um den Polarkreis.
       
 (DIR) Schriftstellerin Wendy Guerra: Unerwünscht und doch präsent
       
       In ihrem Roman schrieb die Autorin Wendy Guerra vom Leben im revolutionären
       Kuba, das oft in Auswanderung endet. Sie selbst ist geblieben.