# taz.de -- Kolumne German Angst: Du darfst ruhig weinen!
       
       > Ein Blick ins Internet zeigt: Mitgefühl ist in diesen Zeiten nicht mehr
       > zu haben. Da kann man scrollen, solange man will.
       
 (IMG) Bild: Gedenken an die Opfer des Flugzeugabsturz im russischen Sotschi
       
       Letzte Woche habe ich mich durch Kommentarspalten und soziale Netzwerke
       gescrollt. Ich war krank und hatte Zeit. Und ich wollte nach einem wirklich
       beschissenen Jahr eine Bestandsaufnahme machen, denn spätestens nach den
       vor Allwissenheit strotzenden Debatten zu Trump und Syrien, hatte ich das
       Gefühl, meinen Radar für Verbündete verloren zu haben.
       
       Und so las ich weiter, wie man von einem Verkehrsunfall die Augen nicht
       abwenden kann. Das liegt nicht am Internet. Live läuft es ganz genauso, nur
       gefiltert. Letztlich ist es doch so: Kinder, Betrunkene und
       Facebook-KommentatorInnen sprechen die Wahrheit. Soviel zum Postfaktischen.
       Manchmal muss man der Wahrheit ins Auge sehen, mal schauen, wie es im
       digitalen Bekanntenkreis tippt.
       
       1) [1][Der Mord am russischen Botschafter in der Türkei.] Dem Video folgten
       die Kommentare meiner russischen und osteuropäischen Bekannten. Sie waren
       schockiert, besorgt. Ihr spontaner Vergleich: der Mord an Franz Ferdinand.
       Meine deutschen Bekannten reagieren erst mal gar nicht.
       
       Dann ging ein Bild viral, ironisch gemeint, natürlich: der Attentäter als
       Rockstar. Nicht einmal jene, die Putin zuletzt zum Retter Syriens
       hochjazzten, hatten ein Wort des Bedauerns übrig. Stattdessen Reaktionen à
       la „Ich kann ihn verstehen“ – von jenen, die sich in ihrer primitiven Not,
       die Welt in gut und böse zu teilen, auf die Seite Assads schlugen, und
       „Rebellen“ in Anführungszeichen schreiben als würden sie ausspucken (die
       Warnung: Wer Assad die Stirn bietet, ist IS oder Dschebhat Fatah al-Scham,
       mindestens jedenfalls Dschihadist).
       
       ## Feuer! Hölle! Verderbnis!
       
       Der schwelende russisch-türkische Konflikt und alles was daran hängt – vom
       Verhältnis zwischen Europa und Türkei / Russland über die Ukraine bis zu
       Syrien – war ihnen egal. Ist das schon postapokalyptisch? Latent suizidal?
       Ein Glück, dass die Ignoranten recht behielten und eine Eskalation
       ausblieb.
       
       2) [2][Die Zahl von 12 Toten in Berlin stand da leider schon fest.]
       Dieselben Leute bekundeten nun vereinzelt ihr Beileid. Mahnten weitere
       Nachrichten abzuwarten. Dann waren sie sich einig: Ein Anschlag, egal ob
       von einem IS-Terrorist, faschistoidem Suizidalen, oder den Behörden
       bekannten Islamist? Wir machen weiter wie bisher! – Verwirrend. Wäre das
       die Reaktion eines Einzelnen gewesen, hätte ich ihn in den Arm genommen: Du
       darfst ruhig weinen!
       
       Kurz darauf war meine Timline voll. Die Emotionen waren groß, von Ironie
       keine Spur. [3][Der Aufreger: Facebooks Safety-Check.] Ein Tool, das
       Traffic generiert. Und Menschen ermöglicht, ihre Sorgen auszudrücken.
       Feuer! Hölle! Verderbnis! Die Emotionen scheinen recht locker zu sitzen,
       zumindest wenn es nicht um Mitgefühl geht.
       
       Nun sitze ich an einem Ort mit schlechtem WLAN. Mit zwei grünen Balken
       beeile ich mich zum [4][Absturz des russischen Militärfliegers] zu lesen.
       In den Kommentarspalten: „Das waren die Amis.“ Ein paar Klicks weiter, in
       meinem Bekanntenkreis, dasselbe Trauerspiel. Plus einer gehörigen Portion
       Häme. Wegen Syrien (s. o.).
       
       Leute, Mitgefühl ohne Voraussetzung ist auch nur menschlich. Danach fällt
       auch das Denken leichter. Versprochen.
       
       27 Dec 2016
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sonja Vogel
       
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