# taz.de -- Soul- und Funkalben aus New Orleans: Lieblingssongs und Voodoozauber
       
       > Von dieser Stadt aus wurde die Musikwelt verändert: Neues und
       > Vergriffenes von Allen Toussaint, Betty Harris und dem Funk aus New
       > Orleans.
       
 (IMG) Bild: Mastermind der Musikszene von New Orelans: Allen Toussaint
       
       Allen Toussaint war ein unglaublich umtriebiger Musiker, aber er war auch
       heimatverbunden. Auf ausgedehnte Konzerttourneen ging er erst, als Hurrikan
       „Katrina“ sein Haus und sein Studio in New Orleans zerstört hatte. Da zog
       Toussaint für einige Zeit nach New York und machte die Weltöffentlichkeit
       auf die Missstände beim Wiederaufbau seiner Heimatstadt aufmerksam.
       
       In den knapp vierzig Jahren davor genügte es dem Pianisten, Komponisten und
       Produzenten, die Musikwelt von Louisiana aus zu verändern. Und, keine
       Frage, das tat er wirklich. Seine eigenwillige Form von New Orleans Soul, R
       & B und Funk beeinflussten ganze Musikergenerationen über alle Genregrenzen
       hinweg.
       
       Als der 77-jährige Toussaint im November 2015 nach einem Konzert in Madrid
       an einer Herzattacke starb, postete Roots-Schlagzeuger Questlove: „Wetten,
       dass Allen Toussaint einige deiner Lieblingssongs komponiert hat, ohne,
       dass du es wusstest?“
       
       Das stimmt wahrscheinlich. „Working in the Coalmine“, gesungen von Lee
       Dorsey, „Yes we can can“ interpretiert von den Pointer Sisters, Labelles
       „Lady Marmelade“, der von ihm selbst gesungene Ohrwurm „Southern Nights“
       oder „Fortune Teller“ in der Version der Rolling Stones sind nur einige
       Beispiele.
       
       ## Stomper für den Karneval
       
       Als Produzent von Dr. Johns Album „In the Right Place“ verhalf er 1973
       seinem Freund zum Durchbruch. Er war also wichtig für Künstlerkollegen, und
       doch sind seine eigenen Interpretationen anderer Songs jenen ebenbürtig.
       Toussaint nahm sich auf seinem letzten Album, „American Tunes“, mit zwei
       Ausnahmen der Kompositionen anderer an und interpretierte die Songs am
       Klavier. Dem Karnevals-Stomper „Mardi Gras in New Orleans“ von Professor
       Longhair mischt er mit seiner Solopiano-Performance zärtliche Töne bei, und
       auch Professor Longhairs im Original eilend verschwitztes „Hey Little Girl“
       ertönt wie ein typischer, zurückgelehnter Bordell-Bar-Song aus New Orleans.
       
       Wo es musikalisch sinnvoll erschien, engagierte Toussaint versierte Gäste.
       Mit swingenden Besen und getupften Basslinien beschwören Jay Bellerose am
       Schlagzeug und David Piltch am Bass in Songs wie „Viper’s Drag“ von Thomas
       „Fats“ Waller oder Confessin’ (That I Love You)“ ausgelassen ermattete
       Gefühle herauf, die sich an einem gelungenen Tanzabend kurz vor der
       Sperrstunde einstellen.
       
       Van Dyke Parks spielt bei Toussaints „Southern Nights“ das zweite Piano.
       Bei Duke Ellingtons „Rocks in My Bed“ räumt Rihannon Giddens in Bluesmanier
       enorme Steine aus dem Weg. Wie sie allerdings „Come Sunday“ von Ellington
       als steife Oper interpretiert, ist nur schwer zu ertragen. Zum Schluss
       singt Toussaint „American Tune“ von Paul Simon – ein würdiger Abschied.
       
       ## Die vergessene Königin
       
       Allain Toussaint war überhaupt eine faszinierende Zentralfigur des New
       Orleans Sou, man begegnet ihm in dieser Stadt überall. In den Jahren von
       1964 bis 1969 hat er – teilweise unter seinem Pseudonym Naomi Neville –
       Songs für die Soulsängerin Betty Harris komponiert, nun zu hören auf der
       Compilation „Betty Harris – The Lost Queen of New Orleans Soul“. Gelebt hat
       die aus Florida stammende Harris allerdings nie in New Orleans.
       
       Für die Aufnahmen wurde sie aus Orlando eingeflogen. Harris wird dennoch
       dem New Orleans Soul zugeordnet, weil sie ihm ihre unvergleichlich hitzige,
       mit einem sexy Hauch belegte Stimme gab – und weil ihre Aufnahmen mit The
       Meters, der damaligen Hausband des Toussaint-Labels Sansu, eingespielt
       wurden.
       
       Neben der musikalischen Könnerschaft aller Beteiligten ist es die gewisse
       dreckige Note, die jeder Musik aus New Orleans den Kick verleiht,
       angetriggert vom feuchtschwülen Klima. Die extratighten, pumpenden Beats
       und unverschämten Funk-Trompeten, die im Auftaktsong „There’s a Break in
       the Road“ von schnarrenden Störgeräuschen beflügelt werden, geben den
       Auftakt zu einer vitalen Soulrevue, wie sie auch heute noch in New Orleans,
       etwa im Club Rock ’n’ Bowl, einer mit Voodoo-Paraphernalien geschmückten
       Bowlingbahn, gefeiert werden.
       
       Das Attribut „lost“ weist auf die Diskrepanz hin zwischen der Anerkennung,
       die Harris in Kennerkreisen genießt, und dem ausgebliebenen kommerziellen
       Erfolg. Die vom Gospel kommende Predigertochter schulte bei Big Maybelle
       auf den säkularen R & B um, hatte vor 1964 mit dem entschleunigten
       Solomon-Burke-Song „Cry to me“ und „His Kiss“ zwei kleine Charterfolge. Mit
       Toussaint nahm sie in der Folge zehn Singles auf, darunter hitverdächtige
       Uptempo-Nummern wie „Ride your Pony“ und „Mean Man“, dessen beschwingte
       Leichtigkeit in Kontrast steht mit dem Versprechen, dem „gemeinen Mann“
       trotz allem gewogen zu bleiben, aber nur der feingliedrige Schieber „Nearer
       to You“ kam in die Charts.
       
       Harris selbst machte für ihren Misserfolg einmal die zeitgleich
       grassierende Beatlemania verantwortlich. Wäre sie mehr im Radio gespielt
       worden, und nicht nur die Beatles, hätte ihre Karriere einen anderen
       Verlauf genommen. So weit die Spekulation. Fakt ist, dass 1967 aus der
       anstehenden Europatournee mit Otis Redding nichts wurde, weil der bei einem
       Flugzeugabsturz ums Leben kam. Harris, die auch mit Leuten wie Sam Cooke,
       James Brown und Aretha Franklin aufgetreten war, nahm das als ein Zeichen.
       
       Im Jahr 1970 zog sich Harris zurück, studierte und kümmerte sich um ihre
       Familie. Erst seit 2005 steht sie wieder auf der Bühne, 2007 folgte mit
       „Intuition“ ein erstes eigenes Album. Dem soulvollen R & B ist sie treu
       geblieben – aber anders als an ihre schwerelosen Soulklassiker aus den
       1960er Jahren wird sich daran in fünfzig Jahren niemand mehr erinnern.
       
       ## Es brennt lichterloh
       
       Allen Toussaint und Betty Harris tauchen auch auf der aktuellen vierten
       Ausgabe der Compilationreihe „New Orleans Funk“ auf, die eine weitere Seite
       dieser Stadt beleuchtet. „Jazz is the preacher, funk is the teacher and the
       drum is the heartbeat“, zitiert Soul-Jazz-Records-Gründer Stuart Baker
       eingangs den gängigen Slogan in den Linernotes. Die Zusammenstellung trägt
       den Untertitel „Voodoo Fire in New Orleans 1951–1975“, Anlass für Baker,
       weit zurück in die wechselvolle Kolonialgeschichte der Crescent City zu
       blicken.
       
       Dabei nennt er nicht nur unterschiedliche musikalische Einflüsse wie
       karibische Rumba- und Mamborhythmen, die Trommelwirbel und Gesänge der
       Mardi Gras Indians, Cajun, die Percussions und Bläser der Second Line
       Beerdigungsparaden und später R & B und Zydeco – alles Musikstile, die auch
       heute noch an jeder Ecke der Stadt zu hören sind (die großartige TV-Serie
       „Tremé“ bildet diese Vielfalt gewissenhaft ab). Er erläutert, wie und woher
       sich die einzelnen Musikstile entwickelten, aus denen sich in den 1960ern
       der synkopische Beat des sogenannten Voodoofunk von New Orleans entwickelt
       hat.
       
       Außerdem stellt er die zentrale Rolle des Congo Square (heute Teil des
       Louis-Armstrong-Parks) im Stadtteil Tremé heraus, auf dem sich bereits im
       18. Jahrhundert Sklaven, ehemalige Sklaven und freie Schwarze zum
       sonntäglichen Tanz und Musikmachen versammelten. Voodoopriester Doctor John
       (der Namensgeber von Voodoorocker Dr. John) und Voodooqueen Marie Leveaux
       hielten dort ihre Zeremonien ab, bei denen verschiedene Religionen und
       deren musikalische Traditionen eine bewusstseinserweiternde Verbindung
       eingingen.
       
       So sind einige Songs der Zusammenstellung eher als Vorgänger und
       Wegbereiter für New Orleans Funk zu bezeichnen. Bei James Waynes’ „Junco
       Partner“ von 1951 ist der Zusammenhang mit Funk nur schwer herauszuhören,
       der Song steckt noch tief im Rhythm and Blues der 40er Jahre. Selbst
       spätere Coverversionen von Professor Longhair, Dr. John oder The Clash sind
       typischer Bordell-Piano-Blues aus New Orleans, R & B oder Dubreggae.
       
       ## Beats und Trompeten
       
       Das von Allen Toussaint komponierte und von Betty Harris gesungene „I’m
       Gonna Git Ya“ hingegen ist ein ausgezeichnetes Soulstück. „Pop, Popcorn
       Children“ von Eldridge Holmes hat Toussaint bei der Produktion dafür durch
       einen Funkkessel gerührt, Beats und Trompeten ploppen durch den Song wie
       losgelöste Maiskörner. Der 1967 von Gus „The Groove“ Lewis ausgegebenen
       Direktive „Let the Groove Move You“ ist problemlos Folge zu leisten.
       
       Chocolate Milk – die achtköpfige Funktruppe, die The Meters bei Sansu als
       Hausband ablöste – stellte 1975 in „Action Speaks Louder than Words“
       politische Forderungen unter das Banner eines wohlorchestrierten Funk, mit
       groovy Breaks, Wahwahgitarren, Hydrauliksynthiesounds und chorischem
       Shout-and-Response-Gesang.
       
       Im vorletzten Song der Zusammenstellung klopfen Chuck Colbert & Viewpoint
       mit „Stay“ bereits an die Türen der Disco, und Zilla Mayes’ „All I Want Is
       You“ von 1968 erinnert in Harmonik und Habitus an Garagensoul im Sound von
       The Seeds. „Voodoo Fire in New Orleans“ vermittelt also ein
       Voodooselbstverständnis: das Verschmelzen der unterschiedlichsten Einflüsse
       zu einem diversen, fesselnden Ganzen.
       
       20 Dec 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sylvia Prahl
       
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