# taz.de -- Barrierefreiheit in der Kunst: Störfaktoren als Material
       
       > Claire Cunningham braucht Krücken und hat damit einen eigenen Tanzstil
       > entwickelt. In Berlin tritt sie in einem Dialog mit Jess Curtis auf.
       
 (IMG) Bild: Szene aus „The Way You Look (At me) Tonight“ von Jess Curtis (hinten) und Claire Cunningham
       
       Eine Krücke ist ein Stuhl, zwei Krücken sind eine Bank im Vokabular der
       Performancekünstlerin Claire Cunningham. Auf einem Stuhl kann man eine
       Pirouette drehen. Auf einer Bank, die durch das horizontale
       Zueinanderwenden der Griffe der Krücken entsteht, also eher den Komfort
       einer Hühnerstange bietet, kann man – mit so einem zierlichen Unterleib,
       wie ihn Cunningham hat – gut ausruhen. Oder auch Walzer tanzen.
       
       Claire Cunningham hat dazu die Krücken hochgeschraubt, so dass die kleine
       Frau, wenn sie sich auf ihre Bank schwingt, auf Augenhöhe ihres
       Performancepartners Jess Curtis sitzt. Einen schönen Moment lang berühren
       sich nur die Stirnen, während sich die Körper wie im Zentrum eines Kreisels
       peripher austarieren, dann nehmen die Hände eine Tango-Walzpose ein. Musik.
       Konzentrierte Innigkeit.
       
       Claire Cunningham und Jess Curtis haben sich 2005 kennengelernt. Bei dem in
       San Francisco und Berlin arbeitenden Choreografen hat die Schottin
       Kontaktimprovisation gelernt. Das war ihr Eintritt in die Tanz- und
       Performancewelt, in der sie heute sogar noch gefragter ist als ihr
       ehemaliger Lehrer. Zuletzt war sie hier mit dem Hieronymus-Bosch-Stück
       „Give Me a Reason to Live“ bei Tanz im August zu sehen.
       
       ## Das Zauberwort ist Zugänglichkeit
       
       Nun haben sich die zwei zum ersten Mal zu einer Ko-Choreografie
       zusammengetan und zeigen im Rahmen des Werkstatt-Programms Open Spaces der
       Tanzfabrik in den Weddinger Uferstudios die Deutschlandpremiere von „The
       Way You Look (At Me) Tonight“.
       
       Das Zauberwort in diesem sympathisch-didaktischen Duo heißt Zugänglichkeit.
       „Accessibility“, sagt in einer Einspielung der Autor und Philosoph Alva
       Noë, der die Proben per Livestream begleitet hat, sei der Schlüssel des
       Bewusstseins – ein stark soziologisch auslegbarer Satz. Konkret bedeutet
       das in diesem Fall erst einmal Barrierefreiheit, Audiodeskriptionen für
       Sehbehinderte, eine Übersetzung in Gebärdensprache am 3. 11. sowie am 4.
       11. eine Tastführung vor der Performance und am 5. 11. ein Gespräch im
       Anschluss.
       
       Das Angebot wird angenommen. Unter den mit Leuchtflüssigkeit gefüllten
       Mobile-Objekten des Designers Michiel Keuper sitzen mehrere
       Rollstuhlfahrer*innen und ein Blinder. Das ist mehr Diversität als sonst im
       Theater. Das einzige Manko: Die Sprache des Stücks ist (schottisches)
       Englisch.
       
       ## Anstiftung zu nerven
       
       Noë ist in den USA ausgebildet und beherrscht (daher) eine Tugend, von der
       deutsche Professor*innen seltsamerweise immer noch kaum wissen, das sie
       besteht: die Gabe zur freien Rede. Die hat der tanzbegeisterte Denker unter
       anderem in seinem Zusammentreffen mit dem Choreografen William Forsythe
       immer wieder unter Beweis gestellt.
       
       Für „The Way You Look (At Me) Tonight“ steuert der Berkeley-Veteran
       philosophische Reflexionen sowie einen atmosphärisch sortierten
       Zettelkasten bei. Das dialogische Prinzip des Sokrates solle nicht als
       nettes Gespräch vorgestellt werden, sondern als Nerven, als Intervention.
       Sokrates, Vater der Aktivisten. Davon abgeleitet beschreibt Noë auch die
       Choreografie des Duos als Störung. Nicht als Tanz sondern als „dancing
       being disrupted“ als „gestörten Tanz“.
       
       Störfaktoren und damit gleichzeitig choreografisches Material sind nicht
       nur die Krücken sondern auch ein Erfahrungsaustausch, der in der Begegnung
       entsteht. Disability Studies und Queerness, eine Objekt orientierte
       Ontologie und Liebe sind die in der Begegnung angeschnittenen Themen.
       Nebenbei wirft sie einmal mehr das Problem auf, dass man die Begriffe
       „crip“ und „cripping“, wörtlich Krüppel, verkrüppeln, wie sie sowohl im
       akademischen Jargon wie im Behinderten-Aktivismus derzeit gebraucht werden,
       kaum übersetzen kann.
       
       ## Die Ausweichbewegung
       
       Cunningham gibt die Themen vor, Curtis folgt. Sie spricht von sich und
       ihren Krücken in der Wir-Form, führt die Hilfsmittel als Fortsätze ihrer
       Gliedmaßen vor, er probiert ihre Lauf- und Drehtechniken aus. Das
       Fortbewegungsprinzip durch den Raum, eine „periphere Fluktuation“, bei der
       es darum geht, Umkreisbewegungen wahrzunehmen, haben sie einem Workshop des
       hüftbehinderten Tanz- und Skateboard-Künstlers Bill Shannon entlehnt. Der
       stellte fest, dass Leute ihm auf der Straße ausweichen, ohne ihn direkt zu
       fokussieren. Dieses Manöver wird Technik. Das im ganzen Raum verstreut
       sitzende Publikum mit eingeschlossen. Wer fokussiert, muss/darf
       Liegestützen machen.
       
       Immer wieder werden wir, unsere Schultern und Füße, auch zu Stegen und
       Pflöcken durch den Fluss der Bewegungen, in den sich Cunningham in fast
       schon ätherischer Leichte an ihren Krücken schwingt – noch gekrönt von
       einer ihrer Gesangsnummern in hellem Sopran. Manchmal schrammt die
       Zugeneigtheit im Bühnenraum an der Grenze zum Kitsch, aber das lässt sich
       für 100 Minuten gut in Kauf nehmen.
       
       4 Nov 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Astrid Kaminski
       
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