# taz.de -- Coming of Age-Roman von Hakan Günday: Seltsam unzerstörbare Hoffnung
       
       > Über Flüchtlinge und Schuld schreibt Hakan Günday einen Roman mit
       > finsterer, klarsichtiger, zu allem entschlossener Energie: „Flucht“.
       
 (IMG) Bild: Hakan Günday liest aus seinem Buch „Extrem“
       
       Der türkische Autor Hakan Günday ist einer, der über Grenzen geht. Oft sind
       es solche, von denen man vorher nicht wusste, wo sie liegen. Nämlich tief
       irgendwo in uns allen. Sie zu überschreiten kann sehr schmerzhaft sein; und
       sie zu überwinden ist schwierig, haben wir uns doch einen dicken Panzer
       zugelegt, der unser empfindliches Gefühlszentrum gegen allzu schlimmes Leid
       abschirmt. Das ist nur menschlich. Das Leben wäre kaum auszuhalten, wenn
       man jedes fremde Leid fühlen würde, als wäre es das eigene. Deshalb blenden
       wir es aus. Das ist ganz normal. Wir können gar nicht anders.
       
       Aber manchmal gibt es welche, die doch anders können. Die sich trauen, ganz
       dicht heranzugehen, uns aus unserer Lethargie aufstören, hartnäckig
       draufhalten auf die unvorstellbarsten Dinge und dabei auch mit der eigenen
       Unversehrtheit spielen. Eben so einer ist Hakan Günday. Zwei seiner Romane
       sind bisher in deutscher Übersetzung erschienen. Als erster, vor zwei
       Jahren, „Extrem“, ein temporeiches, atemberaubendes Märchen voller Magie,
       Poesie, Gewalt und Erlösung.
       
       Der andere, erst kürzlich erschienene Günday-Roman – es ist der achte des
       mittlerweile vierzigjährigen Autors – trägt den deutschen Titel „Flucht“.
       Im Original heißt er „Daha“ („Mehr“), was insofern passender ist, als
       dieser Roman in furchtbarer Konsequenz zeigt, dass es in Wahrheit kein
       Entkommen gibt vor Furcht und Schrecken. Es folgt immer nur mehr davon.
       
       Auch die Hauptfigur dieses Romans ist ein Kind, jedenfalls zunächst: ein
       Junge namens Gazâ in einem kleinen Ort an der türkischen Küste. Als
       Ich-Erzähler rekapituliert er rückblickend die Geschichte eines Coming of
       Age, das jedem herkömmlichen Gebrauch dieses Begriffs spottet. Gazâ muss,
       seit er neun ist, seinem Vater bei der Arbeit helfen. Der Vater aber ist
       ein Schlepper, dessen Business darin besteht, Flüchtlinge, meist Afghanen,
       die nach Griechenland weiter wollen, zu beherbergen und zum Meer zu
       transportieren. Diese Menschen sperrt er bis zum Transport in einen großen
       unterirdischen Wassertank.
       
       Gazâs Aufgabe besteht zunächst vor allem darin, unauffällig die Vorräte
       zusammenzukaufen, die man braucht, um die menschliche Ware am Leben zu
       erhalten. Allmählich vertraut der Vater ihm mehr an. Doch weil Gazâ noch
       ein Kind ist und sich über den Vater geärgert hat, unterlässt er es eines
       Tages, die Lüftung im Lkw anzustellen. So wird der Zehnjährige zum Mörder
       an dem Menschen, der sich darin befand – einem jungen Afghanen, der dem
       Jungen zuvor einen Papierfrosch gebastelt und von seiner Heimat erzählt
       hatte. Fortan lebt die Stimme des Toten in Gazâs Kopf.
       
       Das Schuldtrauma, das aus diesem Tod erwächst, wird zum Leitmotiv in Gazâs
       weiterer Existenz. Er müht sich nach Kräften, die Schmerzen, die aus seiner
       Schuld erwachsen, mit neuer Schuld zu bekämpfen. Doch alle Gewalt, alle
       seelische Grausamkeit, alle Menschenexperimente, die er mit den ihm
       Anvertrauten anstellt, helfen nicht.
       
       Mitunter ist es ja so, sei es in der Literatur oder im Film, dass man das
       Gefühl hat, Kinderprotagonisten würden vor allem dazu verwendet, bei den
       Rezipienten eine stärkere emotionale Reaktion hervorzurufen. Bei Günday ist
       das anders. In den jugendlichen Schicksalen, die er evoziert, bündelt sich
       fast wie in einem Brennglas ein grundsätzliches Drama des Menschseins: die
       prinzipielle Ohnmacht gegenüber Gewalt und Leid. Wie lässt sich dem Leiden
       entkommen? Wie kann man verhindern, sich selbst schuldig zu machen, nur um
       der Opferrolle zu entfliehen? Gibt es einen Weg, das Gute im Menschen
       wiederherzustellen, nachdem er vom Bösen schon verdorben scheint?
       
       ## Vieles in dem Roman ist schwer auszuhalten
       
       Vieles in „Flucht“ erinnert an Werke des Amerikaners Chuck Palahniuk
       („Fight Club“, „Die Kolonie“), der ebenfalls umgetrieben wird vom Drang des
       Menschen zur Gewalt gegen andere. Doch Palahniuks Menschenbild ist ungleich
       schwärzer, nihilistischer. Gündays Protagonisten dagegen werden getrieben
       von einer seltsam unzerstörbaren Hoffnung. Irgendwo muss es doch sein, das
       Ende von Gewalt, Gegengewalt und Leiden. Die Flüchtlinge, die am Anfang von
       Gazâs Geschichte stehen, sind dabei mit ihren Einzelschicksalen reine
       Nebenfiguren, symbolisieren aber gleichzeitig im Kleinen, im dramatisch
       geschlossenen Raum des unterirdischen Wassertanks, eine große, die gesamte
       Menschheit betreffende Tragödie.
       
       Zwei fast mythische Figuren sorgen in „Flucht“ dafür, dass der junge Gazâ,
       der einem kaltherzigen, sadistischen Vater ausgeliefert ist, trotz allem
       eine kleine Ausstattung an Grundvertrauen mitbekommt: Die Seeleute Dordor
       und Harmin, die das Schlepperboot fahren, fungieren als seine Schutzengel.
       Zwei riesenhafte Gestalten, Brüder von unklarer Herkunft, leben die beiden
       auf ihrem Schiff und betreten niemals Land, kontaminieren sich mithin nicht
       mit den irdischen Gräueln.
       
       Als sie irgendwann doch eingreifen in den Lauf der Dinge – denn Gazâ wird
       von einem Flüchtling missbraucht –, setzt sich ein Rachekreislauf von
       Gewalt und Gegengewalt in Gang. Der Junge bleibt fortan schutzlos zurück.
       „Flucht“ ist ungleich schwärzer als Gündays Vorgängerroman „Extrem“ und
       doch so etwas wie seine konsequente Weiterentwicklung. In „Extrem“ gelingt
       es einem obdachlosen Waisenjungen und einer misshandelten Kindsbraut, sich
       aus der ihnen zugedachten Opferrolle zu befreien und als Erwachsene ein
       normales Leben zu führen. In „Flucht“ spart Günday das Märchenhafte aus.
       
       Und doch wird Gazâ am Ende eine Art Läuterung zuteil, nachdem er den Weg
       des von ihm getöteten afghanischen Flüchtlings in umgekehrter Richtung
       gegangen und ins Tal der zerstörten Buddhas von Bamiyan gelangt ist. Es ist
       das Ende des Leidens, wenn auch nur seines eigenen. Der Kreislauf von
       Gewalt und Gegengewalt aber geht weiter.
       
       Vieles in diesem Roman ist schwer auszuhalten und doch auf schreckliche
       Weise erhellend; ja, oft ist es gleichzeitig sogar komisch. Es gibt in
       Hakan Gündays Art, zu schreiben, eine Wahrhaftigkeit, die in der Literatur
       sehr selten ist, eine finstere, klarsichtige, zu allem entschlossene
       Energie, die Literatur zurückführt an die Wurzeln des Erzählens. Denn
       gerade für das, was wir uns nicht mehr vorstellen können, brauchen wir ja
       die Literatur. Auch für das Furchtbare.
       
       21 Oct 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katharina Granzin
       
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