# taz.de -- Begehbares Kunstwerk in Leipzig: Verzwickte Fragen
       
       > Wer seinen moralischen Kompass eichen will, für den gibt es in Leipzig
       > eine „begehbare Zwickmühle“. Ein Selbstversuch im Dilemma.
       
 (IMG) Bild: Hirn im Glas: Logo der 2begehbaren Zwickmühle
       
       Ein abgedunkelter, steriler Raum im [1][Leipziger Westwerk] – nicht größer
       als ein herkömmliches Wohnzimmer. Von der Decke hängt eine einzelne
       Glühbirne, die nur schwach die Ecken beleuchtet. In ihnen stehen
       rätselhafte Gegenstände wie ein Gehirn im Glas oder eine
       Spielzeugeisenbahn. Genauer hinschauen wurde mir und meinen drei
       Mitstreitern im Vorfeld von den Gestaltern Jonas Klinkenberg und Dana
       Ersing aber erst einmal untersagt, damit nicht zu viel von der ersten
       Spannung verloren geht. Die Mitte füllt ein Tisch mit vier Stühlen. Darauf
       steht ein mit schwarzem Sand befülltes Kästchen.
       
       Die Kälte von draußen scheinen wir mit in den Raum gebracht zu haben.
       Zunächst lädt uns nichts direkt ein zu bleiben, und die unbequemen
       Wahrheiten, die hier besprochen werden, kann ich förmlich fühlen. Das
       mulmige Gefühl in der Magengegend wird noch von einer leise säuselnden
       Frauenstimme im Hintergrund verstärkt. Sie zu verstehen ist schwer und
       fordert Konzentration – zumeist sind es Worte der Empörung oder
       Verwunderung.
       
       An diesem Gesamtkonzept haben die Veranstalter über ein halbes Jahr
       getüftelt. Dabei war es ihnen wichtig, eine andere Realität zu kreieren,
       wie Dana Ersing erklärt: „Einen Raum zu schaffen, der kein alltäglicher
       ist. Der nicht aussieht wie ein Wohnzimmer oder eine Kneipe, wo man
       normalerweise mit Freunden oder Bekannten diskutiert.“
       
       Während die Tür geschlossen wird, setzen wir uns hin und versuchen die
       letzten ersten Eindrücke aufzusaugen. Gespannt warten Anna, Karla, Heine
       und ich auf ein Signal, das den Beginn unserer moralischen Reise anzeigt.
       „Irgendwie gruselig. Ob die uns nun die ganze Zeit zuhören, während wir
       hier reden?“, gibt Josephine zu bedenken. Schon im Vorfeld haben wir das
       Gefühl, nicht die richtigen Antworten zu geben. Aber gibt es die richtigen?
       
       ## Fünf Dilemmata
       
       Vorbereitet sind wir auf jeden Fall nicht. Kein Wunder, denn bei der
       Beschreibung auf der Webseite zum Dilemma-Raum haben sich Jonas Klinkenberg
       und Dana Ersing reichlich Mühe gegeben, so viel wie möglich im Unklaren zu
       lassen. Alles, was wir wissen: Auf uns warten fünf Dilemmata, die wir als
       Gruppe in 60 Minuten lösen sollen. Auf jede Frage darf es nur eine
       gemeinsame Antwort geben. Welche Dilemmata wir lösen müssen und welche
       Konsequenzen unsere Entscheidungen haben, ist nicht bekannt.
       
       Vergleichbar ist die Idee hinter der begehbaren Zwickmühle am ehesten mit
       den sogenannten Escape Games. Bei ihnen werden die Teilnehmer
       eingeschlossen und müssen Rätsel lösen, um den Raum wieder verlassen zu
       dürfen. Doch auch wenn alles mit dem Gedanken begonnen hat, so etwas in
       Leipzig zu etablieren, war Dana Ersing und Jonas Klinkenberg die Idee zu
       abgegriffen. Etwas Neues sollte her. Deshalb bieten sie statt
       actiongeladenen Denkspielen bekannte moralische Dilemmata.
       
       Ein kunstvoll gestaltetes Bild wird von einem kleinen Beamer an die Wand
       geworfen. Es zeigt das Logo der Veranstaltung. Auch hier ist wieder ein
       rosa Gehirn abgebildet. Plötzlich ändert sich die Folie. Es geht los. Über
       Mikrofone können die Spielemacher im Nebenraum unseren Unterhaltungen
       folgen. Das erfahren wir aber erst im Nachhinein.
       
       Das erste Dilemma erscheint an der Wand, und allein das Lesen kostet einige
       Minuten. Alle haben das Gefühl, dass der moralische Kompass natürlich nur
       die eine Antwort zulässt. Doch wenn es um Leben oder Tod geht, ist
       Schwarzweißdenken fehl am Platz. Das müssen auch wir erkennen.
       
       ## Eine Frage von Leben und Tod
       
       Würde ich mein Leben aufs Spiel setzen, um einem Fremden zu helfen? Oder
       nur, um Freunde oder die Familie zu retten? Jonas Klinkenberg sagt dazu mit
       einem Lächeln: „Das Schöne am Dilemma: Es gibt keine Lösung, und es bleibt
       auch ein wenig so. Dinge, die man heute sagt, überdenkt man morgen wieder.“
       
       Gut zehn Minuten sind für jede Diskussion angesetzt. Nach etwa fünf werden
       die zunächst noch allgemein beschriebenen Situationen verschärft, indem
       persönliche Faktoren wie das eigene Umfeld in die Überlegung mit
       eingebunden werden. Das erschwert die Entscheidung zunehmend. Dennoch
       wollen meine Mitstreiter und ich unsere Meinung auch jetzt nicht ändern.
       
       Meinen Weg in die moralischen Tiefen des Dilemma-Raums habe ich zwar mit
       Freunden angetreten, doch zeigt sich, dass ich einige Seiten an ihnen noch
       nicht kannte. „Was interessiert mich denn die Katze?“, sagt Anna während
       einer Aufgabe. Daraufhin werfe ich ein: „Aber es ist doch trotzdem ein
       Lebewesen.“ Doch für Anna zählt in diesem Fall die Katze eben weniger als
       der Mensch.
       
       ## Auf dem moralischen Prüfstand
       
       Diese Überraschungsmomente haben die Organisatoren bereits bei anderen
       Gruppen beobachtet. Und noch etwas fällt den zweien immer wieder auf: „Es
       sind Leute, die sich in irgendeinem Moment schon einmal mit Philosophie,
       Moral oder Ethik auseinandergesetzt haben. In welcher Form auch immer – ob
       Künstler, Künstlerinnen, politisch aktive Menschen oder Soziologen“,
       erklärt Jonas Klinkenberg.
       
       Darin liegt auch die Schwierigkeit dieses soziokulturellen Projekts, denn
       im Grunde gibt es keinen Menschen, dessen moralischer Zeiger nicht
       zumindest einmal auf den Prüfstand gehört.
       
       Am Ende jeder Diskussionsrunde werden die Ergebnisse mithilfe von
       Gegenständen symbolisiert. Diese nehmen wir aus Schubladen an der Wand und
       platzieren sie in das mit Sand gefüllte Kästchen auf dem Tisch. Wie ein
       Mahnmal thronen sie in der Mitte des Tischs und erinnern uns an die
       Entscheidungen, die wir getroffen haben. Zum Schluss stellen wir fest: Wir
       waren eher passiv als aktiv.
       
       Das Bedürfnis kommt auf, mit Jonas Klinkenberg und Dana Ersing über unsere
       Auswahl zu sprechen. Doch bewerten und belehren wollen die beiden nicht,
       und eine Antwort auf die Dilemmata können sie ebenfalls nicht liefern. „Das
       Schöne ist: Das Projekt ist nicht nach 60 Minuten vorbei. Man nimmt das mit
       raus und diskutiert draußen weiter. Die Hoffnung ist, diese Themen mit in
       den Alltag zu nehmen“, sagt Jonas Klinkenberg. Und so treten wir nach
       dieser Erfahrung unseren Weg im Alltag mit mehr Fragen im Kopf als zuvor
       an.
       
       8 Oct 2016
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://westwerk-leipzig.de/wordpress/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Carina Fron
       
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