# taz.de -- Politische Stimmung auf Usedom: Die Angst vor der Flut
       
       > Die Usedomer kämpfen um ihren Deich, für eine bessere Infrastruktur und
       > gegen Flüchtlinge. Auf der Suche nach den Motiven der Wähler auf Usedom.
       
 (IMG) Bild: Alles in bester Ruhe, doch die Leute haben Angst vor der großen Flut
       
       An dem Tag, an dem sich selbst die Vereinten Nationen darüber beklagen, wo
       die Menschen in Trassenheide, Peenemünde und Zinnowitz ihre Wahlkreuze
       gemacht haben, schiebt der Peenestrom das Oderwasser ruhig an diesen Orten
       vorbei. In seiner Mitte ein paar Boote, in der Luft einige Möwen, die Sonne
       scheint eine ihrer 1.970 Usedomer Rekordstunden. Ein Trupp des Umweltamts
       mäht die Salzwiesen hinter dem Deich von Karlshagen, auf der Deichkrone
       fahren auf Leihfahrrädern Rentnergruppen, die auch jetzt, am Ende der
       Feriensaison, die vielen Herbergen der Insel fast restlos ausgebucht haben.
       
       Der Insel, die ihre Bevölkerung halten kann, während drüben an der Küste in
       den letzten zehn Jahren jeder Zwölfte wegzog. Wo der Ausländeranteil bei 3
       Prozent liegt und der Tourismus dieses Jahr wohl um 8 Prozent wächst. Der
       es gut geht, und deren Bewohner trotzdem glauben, zu kurz zu kommen.
       
       Rainer Höll hat eine Erklärung dafür, warum die Menschen auf Usedom von den
       herrschenden Parteien so wenig wissen wollen. Zwischen den Rentnern auf
       ihren Rädern parkt er seinen Peugeot, er läuft den Deich hinauf und zeigt
       auf die Wälder, die sich bis zur Ostsee ziehen. Das alles hier sei eine
       „Hochwasserschutz-Schwachstelle“, sagt er. „Ein Jahrhunderthochwasser“ und
       der Inselnorden laufe unter Wasser, „wie bei der Sturmflut 1913“. Denn bis
       heute, sagt Höll, gebe es hier keinen richtigen Schutz, und den Peenedeich,
       den es gibt, wolle das Umweltministerium „zurückbauen“.
       
       Auf der anderen Seite des Peenestroms ragen die Schornsteine des
       stillgelegten Kraftwerks von Lubmin auf. Dort will die SPD-geführte
       Regierung Industrie ansiedeln, einige ökologisch wertvolle Flächen müssten
       dafür weichen. Das Umweltrecht will, dass für sie Ersatz geschaffen wird,
       und das sollte genau dort geschehen, wo jetzt Rainer Höll steht.
       
       ## „Auschwitz ist auch Welterbe“
       
       Seit 2008 kämpft der promovierter Historiker gegen den Deichrückbau. Der
       ist für Höll das beste Beispiel dafür, wie sich die politische Klasse gegen
       das Volk wendet. „Niemand auf der Insel hat auch nur das kleinste
       Verständnis für die Pläne.“ In Lubmin werde kein neues Kraftwerk gebaut,
       also brauche es auch keine Ausgleichsflächen. Und der Deich sei ein
       Denkmal, das heute noch denselben Zweck erfülle, „die höchste
       Denkmalschutzkategorie“. „Aber Demagogen wollen daraus einen ‚Nazi-Deich‘
       machen“, sagt Höll. Als die Gegend Unesco-Welterbe werden sollte, gab es
       einen Aufschrei „von außen. Die haben gesagt, das können man nicht zum
       Welterbe machen, das waren alles Verbrecher hier. Aber Auschwitz ist auch
       Welterbe.“
       
       Höll stammt aus Boizenburg an der Elbe, 1975 zog er für ein
       Nordistikstudium nach Greifswald, dann kam er nach Usedom. In seinem
       Nordlicht-Verlag gibt er Zeitschriften wie Usedom Exklusiv und Zauberhaftes
       Usedom heraus. Und Bücher, eines hat er selbst geschrieben. Es handelt
       davon, wie die Regierung einen Bürgermeister, der gegen einen Deichrückbau
       kämpft, erpresst und dann dessen Geliebte umbringen lässt. „Fiktive
       Handlung auf realem Hintergrund“, steht auf dem Klappentext.
       
       Einen runden Tisch in Sachen Deichrückbau hat Hölls Bürgerinitiative
       entnervt verlassen. „Ein Alibizirkus.“ Die Gemeinde Peenemünde sei mit
       einem Stadtentwicklungskonzept „gelockt worden“, den Plänen zuzustimmen. Ob
       sie die Region fördern oder nicht – die Institutionen werden als feindlich
       und irrational wahrgenommen.
       
       Höll glaubt, Schwerin beuge sich einer „starke Naturschutz- und einer
       starken Wirtschaftslobby“. Zwar wurde 2014 das ursprüngliche Vorhaben des
       Deichrückbaus aufgegeben, aber auch die neuen Hochwasserschutzpläne lassen
       die Möglichkeit, den historischen Deich abzutragen, offen, sagt Höll. Für
       ihn hat der lange Kampf der Insulaner das „Gefühl des Vernachlässigtseins“,
       genährt. 70 Prozent der AfD-Stimmen seien von Protestwählern gegen die
       etablierten Parteien: „Denen wollten die Leute es mal zeigen. Und das hat
       schon seine Berechtigung“.
       
       ## Den Touristen geht es gut
       
       Höll kurvt im Auto durch den Norden der Insel, in dem neue Feriensiedlungen
       zwischen Wäldern stehen und Touristen zum Strand gehen. „Es sieht jetzt
       ganz gut aus. Aber lange Zeit ist die Gegend völlig hinten runtergefallen.“
       Die Besucherzahlen gehen nach oben. „Aber viele hier sehen nur: Den
       Touristen geht es gut, und wir sind die armen, ausgebeuteten.“ Die AfD mit
       ihrem Versprechen der Bürgernähe wolle er „beim Wort nehmen“, meint Höll.
       
       An den Seebrücken der Nordküste Usedoms stehen am Nachmittag die Touristen
       an für Mandarinenbowle und Brötchen mit geräuchertem Butterfisch, im Haus
       der Kurverwaltung kaufen sie Karten für das Konzert der AC/DC-Coverband am
       Freitag. In der Bäderbahn, die über die Insel Richtung Peenemünde zuckelt,
       sitzen Rentner und lesen sich gegenseitig aus der Museumsbroschüre vor, wie
       die Nazi-Physiker dort einst die Strömungsmechanik ihrer „Vergeltungsrakete
       V2“ verbessern wollten. Ein gigantischer Kraftwerksbau der Nazis erhebt
       sich am Peeneufer, von seinem Dach aus ist im Osten der Wald zu sehen, in
       den der Nazi-Ingenieur Wernher von Braun testweise seine „Vergeltungsrakete
       V2“ feuerte.
       
       Heute führt Peenemünde die Liste der rechtsextrem wählenden Gemeinden
       Usedoms an. Im Verwaltungstrakt des Historisch-Technischen Museums der
       ehemaligen „Heeresversuchsanstalt“ sitzt Uta Augustat. Seit 1999
       organisiert sie Summercamps, internationale Jugendbegegnungen. Vierzehn
       Jugendliche sind diesmal hier, aus Indien, Spanien, Türkei, Taiwan,
       Südkorea, Japan, Polen, Russland. Vor drei Wochen hat Augustat sie begrüßt,
       ihnen Fahrräder gegeben und „die Zusammenhänge der Geschichte erklärt“, wie
       sie sagt.
       
       Seitdem rupfen sie überwuchernde Pflanzen von den Bunkerresten. „Um die
       Denkmäler zu erhalten und sichtbar zu machen, ist diese Arbeit sehr
       wichtig“, sagt Augustat. Aber es gehe auch um „das Auseinandersetzen mit
       der Geschichte“. Um Werte wie Toleranz und Völkerverständigung. Die
       Jugendlichen sollen „Multiplikatoren für unsere Region werden“. Jetzt, da
       vor allem andere Nachrichten aus der Region in die Welt hinausdringen, sei
       das Projekt „noch wichtiger“.
       
       ## „Extreme Missachtung des Bürgerwillens“
       
       Auf das Wahlergebnis angesprochen reagiert Augustat nervös. Sie schickt
       mehrere Mails, in denen sie darauf drängt, dass das, was sie dazu sagt, auf
       keinen Fall in der Zeitung steht. Wer herumfragt in Peenemünde, der kriegt
       zu hören, dass es der Landesregierung extrem übel genommen wurde, dass sie
       Stationen des Krankenhauses in Wolgast geschlossen habe. Eine „extreme
       Missachtung des Bürgerwillens“ sei das. Sich namentlich nennen lassen will
       niemand.
       
       Der Mensch, dem mehr Usedomer zu vertrauen scheinen, als jedem anderen
       Politiker, heißt Ralph Lothar Weber, ein Juraprofessor aus Greifswald. In
       seinem Büro neben dem Dom hängt ein Aufkleber mit den durchgestrichenen
       Buchstaben „PC“, was wohl heißen soll, dass es sich um eine Zone handelt,
       die frei von politischer Korrektheit ist. Über die Tür hat er ein Bild mit
       einem völlig überladenen Flüchtlingsschiff gehängt, darüber steht: „Die
       Fachkräfte kommen.“
       
       Dass die AfD auf Usedom derartig erfolgreich war, habe drei Gründe: „Der
       eine war natürlich: Sie hatte einen hervorragenden Kandidaten.“ Die anderen
       seien die Infrastruktur und die Flüchtlinge. Die Region werde „immer mehr
       abgehängt, die Regierung nehme das nicht zur Kenntnis“, findet Weber.
       Verheerend sei die Gebietsreform von 2011. Von Usedom-Nord zur jetzt
       zuständigen Kreisstadt Pasewalk sind es über 100 Kilometer. „So verkörpert
       die Regierung Bürgerferne“, sagt Brandt. Es gebe nur „Großgerichte, zu
       denen die Bürger zwei Stunden unterwegs sind“. Dann die Schließung der
       Kinder- und Frauenklinik in Wolgast. „Supertragisch“ für die Insulaner,
       meint Brandt, „völlig fehlerhafte Strukturentscheidungen“.
       
       ## Lupenrein rechtsextreme Argumentation
       
       Dass Usedom im Verhältnis zum Rest des Bundeslandes gut dasteht, lässt
       Weber nicht gelten: „Es geht auch um das Sicherheitsgefühl.“ Das sei auch
       durch die „Grenznähe zu Polen“ schlecht: „Es gibt Einbrüche, und niemand
       tut was, aber Flüchtlingsheime werden bewacht, das kann man nicht
       erklären.“ Im Notfall müsse die Polizei von sehr weit her anrücken.
       
       Noch gebe es wenige Ausländer in der Region. „Aber das soll auch so
       bleiben.“ Weber rechnet vor: Bis 2017 dürften 3,5 Millionen „illegale
       Zuwanderer“ ins Land gekommen sein, davon drei Viertel zwischen 20 und 40
       Jahren. Wenn die sich in der „lebensbejahenden Verbreitungsstrategie, die
       diesen Völkern eigen ist – ich zitiere jetzt bewusst Björn Höcke –,
       ausbreiten“, sagt Weber, „also vier bis fünf Kinder in zehn Jahren“, gebe
       es bald „elf bis zwölf Millionen illegale Zuwanderer und deren Nachfolger“.
       So wären die Deutschen „in weniger als einer Generation in diesem
       Alterssegment eine Minderheit im eigenen Land“. Eine lupenrein
       rechtsextreme Argumentation.
       
       Genau das, sagt Weber, seien die Dinge, die die Menschen bei seinen vielen
       Wahlveranstaltungen in Usedom angesprochen hätten. Sein Ziel sei die
       Rückführung, die von den herrschenden Parteien „vergessen wird“. Diese
       redeten von Integration, aber das „macht nur Sinn, wenn man jemanden hier
       behalten will“. Genau das will Weber nicht, deshalb ist er strikt dagegen,
       hier geborenen Kindern von Flüchtlingen die deutsche Staatsbürgerschaft zu
       geben. „Dann kreieren wir Papierdeutsche und nehmen von Volksdeutschen
       Abstand. Dem gilt der gesamte Widerstand, den wir aufbringen können“, sagt
       Weber.
       
       7 Sep 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Jakob
       
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