# taz.de -- Ärztin Held über Einsätze im Mittelmeer: „Die Toten trieben im Wasser“
       
       > Barbara Held arbeitet eigentlich als Ärztin auf einem Kreuzfahrtschiff.
       > Für zwei Wochen wechselte sie auf die „Sea-Watch 2“, um Flüchtende zu
       > retten
       
 (IMG) Bild: Es ist eng an Deck: Die Sea-Watch 2 hilft Geflüchteten im Mittelmeer
       
       taz: Frau Held, wieso haben Sie sich für einen Einsatz auf einem
       Seenotrettungsschiff entschieden? 
       
       Barbara Held: Ich erfuhr von einer Freundin von der „Sea- Watch 2“ und habe
       mich sofort beworben. Kurz danach kam die Bestätigung, dass sie mich gerne
       nehmen.
       
       Wie wurden Sie vorbereitet? 
       
       Wir haben ein Anschreiben bekommen mit Tipps, welche persönlichen
       Gegenstände wir mitnehmen sollen, die helfen, schöne Eindrücke schneller
       abzurufen, wenn es uns schlecht geht. Es gab eine Telefonkonferenz, wo uns
       allen klipp und klar mitgeteilt wurde, mit was für Situationen wir rechnen
       müssen. Dann wurde uns die Gelegenheit gegeben, einen Rückzieher zu machen.
       Am Basiscamp auf Malta hat uns kurz vor dem Einsatz noch ein
       Traumatherapeut speziell vorbereitet.
       
       Wie haben Sie sich persönlich mental vorbereitet? 
       
       Ich habe als Notärztin schon viele Schwerstverletzte und Tote gesehen. Das
       hat mich nicht geschreckt. Ich habe aber befürchtet, dass ich mit schweren
       Verletzungen zu tun bekomme, mit denen ich mich gar nicht auskenne.
       
       Wie lange waren Sie unterwegs? 
       
       Alle zwei Wochen wird die Crew – wenn auch nicht komplett – gewechselt. Wir
       waren insgesamt zehn Tage auf See und mussten etwas früher zurück, weil das
       Wetter sehr stürmisch war. An fünf Tagen hatten wir Einsätze, manchmal
       mehrere am Tag.
       
       Wie groß war die Crew? 
       
       Wir waren 13 Personen. Darunter auch zwei Journalisten. Zwar hatte jeder
       seine Aufgabe, aber letztendlich machen alle alles – notfalls auch Leichen
       aus dem Meer ziehen. Wir haben auch alle das Boot abwechselnd gesteuert,
       und bei den medizinischen Notfällen haben auch unsere Anwältin und der
       Maschinist mit angepackt.
       
       Sie hatten eine Anwältin dabei? 
       
       Ja, eine junge Italienerin. Sie hatte die Aufgabe, mit der italienischen
       Seenotrettungsgesellschaft zu kommunizieren. Zwar ist es nach
       internationalem Seerecht Pflicht, sich um Schiffbrüchige zu kümmern. Doch
       in der Praxis muss man auf die Kapitäne der Schiffe, die in der Nähe sind,
       oft Druck aufbauen, damit sie auch wirklich helfen.
       
       Wie ging es dann los? 
       
       Wir sind von Valletta aus 26 Stunden in Richtung der libyschen Küste
       gefahren. Als wir das Gebiet erreichten, in dem wir Flüchtlingsboote
       erwarteten, schipperten wir an der 24-Seemeilen-Grenze, wo das
       internationale Gewässer beginnt, die Küste rauf und runter und hielten
       Ausschau. Mitunter schaukelte das Schiff so, dass selbst das Kaffeetrinken
       anstrengend war. Zwei Tage lang blieb es ruhig.
       
       Und dann? 
       
       Dann haben wir von der italienischen Seenotrettungsleitstelle einen Anruf
       bekommen, dass unweit von uns ein Flüchtlingsboot gesichtet wurde. Wir sind
       sofort hingefahren. Ich habe das Boot aus einiger Entfernung gesehen und
       dachte noch: Das ist ein kleines Boot, da sind höchstens 20 bis 30 Leute
       drauf. Es waren 125. Es ist für mich nach wie vor nicht vorstellbar, wie
       die da alle draufpassten. Jeder hatte eine kleine Flasche Wasser dabei, die
       Männer pinkelten über den Rand, die Frauen saßen in der Mitte und pinkelten
       irgendwann in die leeren Flaschen. Die meisten Flüchtlinge wirkten gesund
       und stabil.
       
       Was konnten Sie für die Menschen tun? 
       
       Wir haben sie mit Rettungswesten ausgestattet. Und sie haben uns einen
       zweijährigen Jungen übergeben. Er atmete flach und rasselnd, war
       ausgetrocknet, fieberte langsam auf und war völlig unterzuckert. Ich hatte
       Angst, dass er stirbt. Das war die erste große medizinische
       Herausforderung. Schließlich hat ein Schiff von Ärzte ohne Grenzen den
       Jungen und die anderen Flüchtlinge aufgenommen.
       
       Wie verlief der nächste Einsatz? 
       
       Beim zweiten Einsatz hatten wir auch gerade ein Boot mit 127 Menschen an
       Bord versorgt, die schon deutlich länger auf See und viel erschöpfter
       waren. Während wir auf ein Boot warteten, dass die Schutzbedürftigen
       aufnehmen konnte, mussten mein Kollege und ich ganz viele Frauen versorgen,
       die in der Mitte des Bootes gesessen hatten, um besser geschützt zu sein.
       Dort aber war Öl oder Benzin ausgelaufen. Viele hatten darum am Gesäß oder
       an den Beinen großflächige Verätzungen. Wir haben unser gesamtes
       Verbandsmaterial verbraucht. Auf einen solchen Großeinsatz war die
       „Sea-Watch 2“ nicht eingestellt.
       
       Auch nicht darauf, so viele Flüchtlinge aufzunehmen, oder? 
       
       Die „Sea-Watch 2“ ist für höchstens 30 Personen zugelassen. Geplant war,
       Flüchtlinge im Mittelmeer aufzuspüren und sie mit Rettungswesten,
       Rettungsinseln, Wasser und Zuckerlösung zu versorgen, bis ein Boot kommt,
       das sie an Bord nehmen kann. Nur Menschen, die medizinische Behandlung
       brauchen, sollten zu uns an Bord kommen.
       
       Aber es kam anders? 
       
       Noch während wir auf ein Schiff warteten, dass die Flüchtlinge aufnehmen
       konnte, wurden wir zum nächsten Einsatz gerufen. Dort war zwei Stunden
       zuvor ein Boot gekentert. Wir konnten die Flüchtlinge nicht alleine lassen,
       aber auch nicht bei ihnen bleiben. Unsere Kapitänin hat spontan
       entschieden: Wir nehmen alle 127 Menschen auf und fahren zu dem gekenterten
       Boot.
       
       Was für ein Bild bot sich Ihnen dort? 
       
       Als wir ankamen, sahen wir schon das sinkende Boot, dessen Reling noch aus
       dem Wasser ragte. Auf dem Bootsrand saßen noch Flüchtlinge und hielten sich
       fest. Alle Menschen, die im Unterdeck waren, waren ertrunken. Viele Leichen
       schwammen in der Mitte des Bootes, viele trieben im Meer. Wir haben
       geholfen, die Lebenden auf das bereits eingetroffene Boot der Küstenwache
       zu bringen und die Toten aus dem Wasser zu ziehen. Die hundert
       Leichensäcke, die wir an Bord hatten, waren am Ende des Einsatzes
       aufgebraucht.
       
       Welche Bilder prägen sich ein? 
       
       Ich habe mit den Flüchtlingen an Bord gestanden und wir haben die Toten im
       Wasser treiben sehen. Irgendwann entdeckte ich etwas ganz Buntes, was ich
       für Müll hielt. Als wir uns näherten, erkannte ich, dass dort eine Frau
       trieb, die ein ganz buntes Kleid trug. An ihrer Seite trieb ein Bündel,
       dass in den gleichen bunten Stoff gehüllt war – ihr Kind. Ein Paar hatte
       sich an einem Seil aneinander festgebunden und trieb leblos im Wasser. Ich
       musste sofort an das Paar in Pompeji denken, dass sich im Todeskampf
       aneinander klammerte. Zeitgleich fischte unser Erster Offizier zwei tote
       Kleinkinder aus dem Wasser. Das Bild von dem einen Kind ging um die Welt,
       bei dem zweiten Kind sah sich unserer Fotojournalist, der in den
       Krisenregionen der Welt eigentlich schon alles gesehen hatte, emotional
       nicht mehr in der Lage, auf den Auslöser zu drücken. Die Flüchtlinge um
       mich herum waren währenddessen ganz still.
       
       Hat Sie da die Wut gepackt? 
       
       Ich kam nicht dazu, wütend zu sein, weil ich unsere Anwältin trösten
       musste, die schrie: „Was für eine Scheiße, jeden Tag verrecken hier völlig
       unnötig Leute.“ Später haben wir noch ein paar persönliche Sachen der
       Gestorbenen aus dem Wasser gefischt. Wir fanden in einer Tasche Fotos, die
       die Geschichte eines Lebens erzählten, das nun nicht mehr weiter geht.
       
       Die Wut kam also erst später? 
       
       Ich bin viel rumgereist und wurde überall besser behandelt als diese
       Menschen. Das finde ich sehr traurig. Für uns Deutsche ist es ja ganz
       natürlich, in ein anderes Land zu gehen, wenn wir hier nicht den
       Studienplatz unserer Wahl oder einen geeigneten Arbeitsplatz bekommen.
       
       Aber die Vielzahl der Geflüchteten hat Deutschland im vorigen Jahr an seine
       Grenzen gebracht – so nehmen es zumindest hier viele Menschen war.
       
       Die Aufnahme und Integration so vieler Flüchtlinge ist sicher eine
       Herausforderung. Aber bei den Menschen, die schon unterwegs sind, haben wir
       alle eine moralische Verantwortung. Wir müssen allen helfen, ohne ihre
       Fluchtgründe zu bewerten. Für uns Ärzte ist es ganz normal, allen zu
       helfen, egal ob sie an ihren gesundheitlichen Problemen selber schuld oder
       krankenversichert sind. Wir helfen nicht nur Menschen, bei denen es sich
       auszahlt.
       
       Wollen Sie Ihren Einsatz wiederholen? 
       
       Ja, Ende Oktober. Bis dahin arbeite ich wieder als Schiffsärztin auf einem
       Kreuzfahrtschiff.
       
       Das ist ja ein gewaltiger Kontrast. 
       
       Ja. Auf einem Kreuzfahrtschiff ist es absolute Normalität, dass man schon
       bei kleinsten Problemen sofort eine gute medizinische Versorgung einfordern
       kann. Bei den Flüchtlingen geht es lediglich um absolute Notversorgung. Um
       eine Verletzung, um die sich auf dem Kreuzfahrtschiff ein ganzes Ärzteteam
       bemüht, kümmert sich auf der „Sea-Watch 2“ der Maschinist, weil die wenigen
       Mediziner schlimmere Wunden versorgen müssen.
       
       15 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marco Carini
       
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