# taz.de -- Medienethiker über Anschlagsmeldungen: „Die postredaktionelle Gesellschaft“
       
       > Rasend verbreiten sich Fotos von Leichen und Falschmeldungen im Netz.
       > Alexander Filipović über Öffentlichkeit, Tempo und Verantwortung.
       
 (IMG) Bild: Eine Gruppe trauernder Menschen kommt am 23.07.2016 in München vor das Einkaufszentrum
       
       taz: Herr Filipović, nach den Anschlägen der vergangenen Wochen tauchten im
       Netz Fotos und Videos vom Tatort auf, die Passanten gemacht hatten. Wie
       verändert sich der Begriff der Verantwortung, wenn wir alle zu Sendern
       werden? 
       
       Alexander Filipović: Man redet schnell von Verantwortung. Aber was genau
       bedeutet das? Der Kern des Verantwortungsbegriffs ist, die Folgen des
       eigenen Handelns vorauszusehen. In diesem Fall bedeutet es: Bevor ich etwas
       im Internet veröffentliche, muss ich mir Gedanken machen, welche Folgen das
       haben wird, ob diese Folgen gut oder schlecht sind, und danach muss ich
       handeln.
       
       Und schaffen die Menschen das? 
       
       Leider nicht, aber das ist auch nicht leicht. Mit einem Handy in der Hand
       hat jeder die Möglichkeit, selbst Journalist zu werden, und nutzt sie
       offenbar auch. Die Professionsethik, die Journalisten in ihrer Ausbildung
       verinnerlicht haben, fehlt. Ich bekomme das in meinem Umfeld mit – zum
       Beispiel in unserer Fußball-Eltern-WhatsApp-Gruppe. Ein anderer Vater
       schickte dort am Freitag Fakebilder vom Attentat in München. Plötzlich hieß
       es, dass es am Stachus eine Schießerei mit Geiselnahme gebe. Die Fotos
       stammten aber von einem Attentat in einem südafrikanischen Einkaufszentrum
       2015. WhatsApp-Gruppen finden genauso wie Diskussionen auf Facebook im
       halböffentlichen Raum statt. Das trägt zu einer Hysterisierung bei.
       
       Wie erreichen wir eine kompetente Gesellschaft? 
       
       Das ist Teil eines Bildungsprozesses, den wir alle erschaffen müssen. Es
       geht dabei nicht nur um Kinder, die Medienkompetenz erlernen müssen,
       sondern um alle Erwachsenen zwischen 20 und 45, die soziale Medien nutzen.
       Derartige Sozialisierungsprozesse dauern sehr lange. Ziel ist die
       „redaktionelle Gesellschaft“. Das ist ein Begriff des
       Medienwissenschaftlers John Hartley.
       
       Die redaktionelle Gesellschaft ist als Utopie zu verstehen: Alle Leute
       können kompetent über die Folgen ihrer öffentlichen Kommunikation
       nachdenken und danach handeln. Faktisch erleben wir das Gegenteil: die
       postredaktionelle Gesellschaft. Wir haben keine Redaktionen für unsere
       öffentliche Kommunikation. Wozu das führt, haben wir nach dem Attentat in
       Nizza gesehen und jetzt in München. Die Menschen halten ihre Kamera drauf
       und verbreiten Fotos, Videos und Falschmeldungen rasend schnell.
       
       Wie können die etablierten Medien darauf reagieren? 
       
       Das ist gar nicht so leicht. Im Kern geht es um Entschleunigung und um Fact
       Checking. Die Redaktionen müssen die Gerüchte, die in der Welt sind,
       sorgfältig prüfen. Zu den Fotos, die ich am Freitag auf WhatsApp bekommen
       habe, hat zum Beispiel Buzzfeed sehr schnell gemeldet, dass es sich um
       einen Fake handelt. Manche Medien haben es dabei leichter als andere. Print
       zum Beispiel. Aber man sieht ja, wie überfordert das Fernsehen ist.
       
       Was meinen Sie damit? 
       
       In Katastrophenzeiten wird Fernsehen fast zum Katastrophenfilm. Man kann
       dem Fernsehen dabei zuschauen, wie es versucht, die eigene Überforderung zu
       überwinden. Ein Produkt davon ist der „Brennpunkt“. Eigentlich besteht
       Fernsehen aus Programm: Alles wird geplant, jede Sendeminute steht in einer
       Liste. In Katastrophenzeiten wird das alles über den Haufen geworfen.
       Manche Theorien sagen: Wenn es kein Programm mehr gibt, kann man nicht mehr
       von Fernsehen sprechen. Es gibt auch die Ansicht, dass an diesen Punkten
       Fernsehen erst beginnt.
       
       Wie das? 
       
       Indem es diese völlig außergewöhnliche Zeiten rasend schnell umwandelt in
       eine normale Zeit. In Krisen und Katastrophen schafft Fernsehen damit
       Normalisierung. Man kann den „Brennpunkt“ als Sendung begreifen, die
       versucht, Katastrophen wieder einzufangen und in die Zeit einzuordnen.
       
       Stichwort Entschleunigung: Ist das nicht ein Dilemma? Wenn große Medien mit
       Reaktionen warten, bekommen die Falschmeldungen mehr Bedeutung. 
       
       Ja, das ist so, aber auf der anderen Seite: Geprüfte Informationen brauchen
       einfach mehr Zeit als ein hysterischer Tweet. Wenn man sich als Journalist
       begreift, ist man konstitutiv langsamer. Am Freitagabend waren eigentlich
       nur die Facebook-Seite und der Twitter-Account der Münchner Polizei ein
       sicherer Kanal, dem man folgen konnte. Ich habe die Süddeutsche Zeitung und
       Spiegel Online beobachtet. Die haben ganz klar geschrieben: was wir wissen
       und was wir nicht wissen. Das scheint mir eine vernünftige Differenzierung
       zu sein. Es hat Schüsse gegeben – mehr wissen wir nicht. Das müssen wir
       alle begreifen. Aber das Dilemma bleibt.
       
       Bieten diese neuen Öffentlichkeiten auch Chancen? 
       
       Was die soziale Kommunikation für die Menschen in ihrem Alltag betrifft,
       ist es natürlich positiv. Die Leute wussten sofort, wo sich ihre Lieben
       aufhalten. Sie standen im Kontakt mit ihnen. „Seid ihr okay? Wir halten mit
       euch den Atem an.“ Was die Ebene der öffentlichen Kommunikation betrifft,
       ist es jedoch hoch problematisch. Natürlich können wir den Menschen nicht
       das Twittern verbieten. Aber vielleicht gibt es so etwas wie Lerneffekte.
       Der Vater, der die Fakebilder geschickt hat, hat sich im Nachhinein zum
       Beispiel entschuldigt. Er hat geschrieben, dass er solche Bilder künftig
       nicht in die Gruppe stellen würde.
       
       Nach welchen Kategorien können wir uns richten, um die Folgen unserer
       Handlung abzuwägen? 
       
       Wahrhaftigkeit ist ein Kriterium, also das Streben nach Wahrheit. Habe ich
       mich wirklich bemüht, nach bestem Wissen und Gewissen das Richtige zu
       kommunizieren? Es ist Vorsicht geboten. Oder eigentlich müsste man besser
       sagen Mäßigung. Die Folgen unserer Handlungen sind in den Netzwerkdynamiken
       der postredaktionellen Gesellschaft nicht mehr einzuschätzen.
       
       Sind Sie zufrieden mit der aktuellen Berichterstattung? 
       
       Es gibt immer solche und solche. Der Boulevard schrammt nicht nur am
       rechtlich Möglichen, sondern auch am sittlich Guten entlang. Ich muss aber
       sagen, dass ich in den letzten Tagen wenig Fernsehen geguckt habe, weil ich
       die Bilder nicht gut ertragen kann. Im Radio habe ich häufiger gehört: „Wir
       wollen ja nicht spekulieren, aber …“ Das ist eine Absurdität. Wobei ich das
       bei einem Moderator im Fernsehen wieder verstehen kann. Er muss die zehn
       Minuten vor der Pressekonferenz mit Programm füllen. Doch dann hat der
       Interviewpartner in diesem Moment die Aufgabe, zu sagen: Spekulieren wir
       nun, oder nicht? Eigentlich muss man sagen: Wir wissen nichts. Doch dann
       können wir uns nicht mehr unterhalten, und das geht im Fernsehen nicht.
       
       Ist also Kritik an den Journalisten angebracht? 
       
       Die Medienkritik neigt in solchen Zeiten selbst zur Hysterie und wird damit
       Teil der Aufregung. Das ist auch nicht klug. Auf Twitter sieht man, wie
       viel Verachtung journalistischer Arbeit entgegengebracht wird.
       „Journalisten, ihr seid zum Kotzen!“ Das führt zu nichts.
       
       27 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Amna Franzke
       
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