# taz.de -- Grundrechte in der Türkei: Normalität im Ausnahmezustand
       
       > Für drei Monate kann Erdoğan per Dekret regieren und Grundrechte
       > einschränken. Auf den Alltag wirkt sich das zunächst kaum aus.
       
 (IMG) Bild: Am Nachmittag stimmten im Parlament AKP und MHP zu
       
       Istanbul taz | Am Donnerstagmittag, Tag Eins des Ausnahmezustandes, wirkt
       Istanbul wie immer. Die Straßen sind voll, die Restaurants und Cafes
       geöffnet und auf den Baustellen drehen sich die Kräne ohne Unterbrechung.
       
       Den „normalen“ Bürger, hatte Ministerpräsident Binali Yıldırım nach
       Verkündung des Ausnahmetzustandes durch Präsident Recep Tayyip Erdoğan
       versichert, „wird der Ausnahmezustand nicht betreffen“. Tatsächlich gingen
       am Mittwochmorgen alle Flüge von türkischen Flughäfen planmäßig, es gab
       keine Straßensperren oder andere zusätzliche Kontrollen.
       
       Laut Gesetz hat Präsident Erdoğan ab der Verkündung im Gesetzblatt für drei
       Monate die Möglichkeit, per Dekret zu regieren. Die Dekrete werden im
       Kabinett erlassen und haben sofort Gesetzeskraft, müssen aber an das
       Parlament weitergeleitet werden und dort mit einfacher Mehrheit bestätigt
       werden. Eine Klage beim Verfassungsgericht ist nicht möglich.
       
       Darüber hinaus werden zeitweilig Grundrechte eingeschränkt. Die türkische
       Regierung kündigte außerdem an, die Europäische Menschenrechtskonvention
       außer Kraft setzen zu wollen. Deren Artikel 15 erlaubt das Abweichen von in
       der Konvention vorgesehenen Verpflichtungen, wenn „das Leben der Nation
       durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht“ wird. Dies
       gilt allerdings nicht uneingeschränkt. So darf vom Recht auf Leben nur bei
       „Todesfällen infolge rechtmäßiger Kriegshandlungen“ abgewichen werden. Auch
       rückwirkende Strafverschärfungen sind ausgeschlossen.
       
       ## 2002 zuletzt Ausnahmezustand in Kurdistan
       
       Zuständig für die Umsetzung des Ausnahmezustandes sind die Gouverneure der
       81 Provinzen. Die meisten Türken kannten den Ausnahmezustand bislang nur
       aus der Ferne. Zwar war nach dem Putsch 1980 für mehrere Wochen das
       Kriegsrecht verhängt worden, der Ausnahmezustand galt dagegen wegen
       „drohender Terrorgefahr“ in den kurdischen Provinzen des Landes von den
       1980er-Jahren bis zum Jahr 2002. In den kurdischen Provinzen bedeutete das
       die permanente Kontrolle der Bevölkerung.
       
       Das alles ist in Istanbul und den anderen westlichen Metropolen der Türkei
       jetzt nicht der Fall. Erdoğan geht es darum, „den Staatsapparat von den
       Viren und Metastasen der Gülen-Bewegung zu säubern“. Er verbat sich Kritik
       aus Europa und verwies auf den Ausnahmezustand in Frankreich.
       
       Bisher sind es weniger die klassischen linken Oppositionellen und Kurden,
       die im Fokus der Verfolgung stehen, sondern neben dem Militär und der
       Justiz vor allem Lehrer, Professoren, sonstige Mitarbeiten an Universitäten
       und vor allem Mitarbeiter von privaten Bildungseinrichtungen. Der
       Bildungsbereich ist seit Jahrzehnten eine Domäne der Gülen-Bewegung. Ihr
       Aufstieg begann mit Kursen, in denen Nachhilfeunterricht für die
       Zulassungsprüfung zur Universität erteilt wurde. Daraus entwickelte sich
       mit den Jahren ein ganzes Imperium von Privatschulen und
       Privatuniversitäten, an denen tausende Schüler und Studenten ihre
       Abschlüsse machen.
       
       Neben der Zerschlagung dieser Schulen sollen mit Gülen sympathisierende
       Lehrer, Dozenten und Professoren an staatlichen Universitäten ausgesiebt
       werden. Deshalb wurden in den letzten Tagen rund 50.000 Lehrkräfte
       suspendiert. Um zu verhindern, dass Gülen-Anhänger sich ins Ausland
       absetzen, gilt für die Zeit des Ausnahmezustandes ein Ausreiseverbot für
       den gesamten Bildungsbereich, aber auch etliche anderen Sektoren des
       öffentlichen Dienstes. Türken, die ins Ausland reisen wollen, müssen jetzt
       neben ihrem Pass auch ihre Sozialversicherungsnummer vorweisen. Über die
       kann sofort festgestellt werden, wo sie beschäftigt sind.
       
       Viele hoffen, dass dieses Ausreiseverbot bald wieder aufgehoben wird.
       Größere Fluchtbewegungen gibt es derzeit nicht, trotzdem hat die
       griechische Küstenwache ihre Patrouillen zwischen den Inseln und der
       türkischen Küste wieder verstärkt. Am Nachmittag wurde der Ausnahmezustand
       mit den Stimmen der AKP und MHP im Parlament gebilligt. Die oppositionelle
       CHP und die kurdisch-linke HDP stimmten dagegen.
       
       21 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
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