# taz.de -- Argentinischer Musik- und Tanzfilm: Der Mond über der Ebene
       
       > Schmerz ist der Motor der hochemotionalen Bewegungen in „Argentina“. Der
       > neue Film von Regisseur Saura reiht sich in sein „Erinnerungskino“ ein.
       
 (IMG) Bild: Tänze, im Studio dargeboten. Szene aus „Argentina“
       
       Oh, diese Sehnsucht! Oh, diese Einsamkeit! Sie ist weit und sie ist tief in
       den Liedern der argentinischen Musiker, denen Carlos Saura seinen Film
       „Argentina“ (im Original: „Zonda: folclore argentino“) gewidmet hat.
       Schmerz steuert die Stimmen der Männer und Frauen, sie leiden in ihren
       Liedern, am Verlust der Heimat oder der Trennung von geliebten Menschen.
       Die Erinnerung ist ihr Kompass, sie geleitet die Singenden auf den Reisen
       durch ihre innere Landschaften, mondbeschienene Ebenen, Weinberge oder
       wilde Grenzregionen.
       
       „Mein armer Schatten, wenn ich einmal tot bin, hat er niemanden mehr“,
       singt Pedro Aznar, der sich auf einer kuhfellbespannten Trommel begleitet,
       und ein zweiter Man tanzt dazu, schlangenähnlich, in sich versunken, die
       Arme eng und geschmeidig um den Körper geführt. Es ist ein vorsichtiges
       Abtasten des Raumes, der ihn umgibt.
       
       Und so vorsichtig begegnen sich in Sauras neuem Musik- und Tanzfilm auch
       die Paare, die einander umkreisen, mit Armen und kleinen Tüchern lenken –
       wie der Kämpfer den Stier, ja, ja, das denkt man schon – und noch in der
       Nähe spannungsvoll Abstand halten. Die Frauen, in weiten Röcken, meist
       barfuß, die Männer in feinen Schuhen, die selbst zum percussiven Instrument
       werden können, in virtuosen Ausbrüchen, einer fein geklöppelten
       Präzisionsarbeit der Füße.
       
       Der Tango ist wohl der bekannteste Paartanz aus Argentinien und dem Tango
       hat Saura, der alte Tanzfilmmeister, schon vor beinahe zwanzig Jahren einen
       Film gewidmet. „Argentina“ dagegen ist kein Tangofilm. Der Film versammelt
       vielmehr argentinische Musiker, Gitarristen und Pianisten, Komponisten und
       Sänger, die sich der Folklore und verschiedenen musikalischen Traditionen
       widmen, die mit den Händlern und den Einwanderern vor vielen Jahrhunderten
       nach Argentinien kamen und auch Einflüsse der indigenen Kulturen aufnahmen.
       Das Reisen, die Bewegung über Land, ist in fast allen der hoch poetischen
       Liedzeilen ein Thema.
       
       Zamba und Chacarera heißen die hier kaum bekannten Tänze, die im Film von
       der Balletttruppe „Ballett Nuevo Arte Nativo de Koki & Pajarin Saavedra“
       interpretiert werden. Das Setting ist ein Studio, eine Bühne, auf der die
       Tanzauftritte oft von Vervielfältigungen auf einer Videowand begleitet
       werden; ein Show-Element der Vergrößerung, das in dem Film doch oft etwas
       stört und den Tänzern auch viel von der Intimität und Sanftheit der
       Bewegungen nimmt.
       
       ## Filme ganz ohne Handlung – nur von der Seele des Tanzes
       
       Wer bei Folklore an Volksfeste denkt oder etwa einen dokumentarischen
       Zugang über populäre Ballsäle im tanzfreudigen Argentinien erwartet, den
       kann der ganz auf einer Bühne, in einem puristischen, manchmal fast schon
       sterilen Setting entstandene Film freilich auch enttäuschen. Er zeigt
       Folklore dort, wo sie als Kunstform, vielleicht etwas zu gereinigt von
       allem Dreck der Straße, aufbewahrt, tradiert und auch vorsichtig
       modernisiert wird. Das hat manchmal auch etwas von einem akademischen und
       musealisierenden Blick, der hohen Emotionalität der Lieder zum Trotz.
       
       Carlos Saura, in Spanien 1932 geboren, ist heute etwas über achtzig Jahre
       alt. Vielleicht, denkt man manchmal, ist er auch deshalb so empfänglich für
       das rückwärtsgewandte, erinnerungstrunkene dieser Musik. Aber schon den
       Filmen, die ihn berühmt gemacht hatten, sagte man nach, „Erinnerungskino“
       zu sein.
       
       In den 60er Jahren, noch in der Zeit des Diktators Franco, ermöglichten
       seine fast surrealen Filmerzählungen („Die Jagd“, „Pfefferminz Frappé“),
       sich mit den Doppelbödigkeiten einer über viele Verbote gesteuerten
       Gesellschaft auseinander zu setzen. In den 80er Jahren begann er, der schon
       vor dem Filmemachen als Tanzfotograf gearbeitet hatte, choreografierte
       Dramen ins Kino zu bringen, darunter „Carmen“, „Die Bluthochzeit“. Das war
       damals eine Ausnahme und ist es immer noch. Bis schließlich Musik und
       Tanzfilme folgten – „Tango“, „Fados“, „Flamenco, Flamenco“ -, die ganz ohne
       Handlung von der Seele der Tänze selbst erzählten.
       
       Drei, vier, fünf Minuten, mehr nicht, dauern die Auftritte der Bands und
       Tänzer in seinem Film „Argentina“. Nur mit ihrer Musik stellen sie sich
       vor, weitere Informationen gibt es nicht, selbst die Namen kann man erst im
       Abspann lesen. Manchen Künstlern hätte man gerne etwas länger zugesehen und
       zugehört, wie dem Pianisten Lito Vitale, der einen Chacarera zuerst
       percussiv im Inneren eines Flügels interpretiert und dann immer mehr einen
       jazzigen Drive hineinbringt. Am Ende des Films bleibt etwas zu sehr der
       Eindruck, durch einen Katalog argentinischer Bands geblättert zu haben. Und
       nicht so recht wissen, wie draußen, vor der Tür der Bühne, das Leben
       eigentlich aussieht.
       
       11 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katrin Bettina Müller
       
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