# taz.de -- Verschwörungstheorie konkret: Angst vor dem Sozialismus
       
       > Auch in Niedersachsen laufen Ultrakonservative gegen Sexualaufklärung
       > Sturm: Deren Ziel sei die Schaffung des „neuen Menschen“
       
 (IMG) Bild: So ist's recht: Geschlechtertrennung auf bayerisch, rechtzeitig eingeübt
       
       HANNOVER taz | Eine kleine Revolution war der Beschluss des
       niedersächsischen Landtags schon: Die „Vielfalt sexueller Identitäten“ wird
       Thema im Schulunterricht, entschied das Landesparlament in Hannover im
       Dezember 2014 mit den Stimmen der Regierungsfraktionen von SPD und Grünen,
       aber auch der FDP.
       
       Umgesetzt wurde damit ein Versprechen des Koalitionsvertrages: „Die
       rot-grüne Koalition tritt dafür ein, dass alle Menschen nicht nur
       unabhängig von Geschlecht, Alter, Herkunft, Behinderung und Religion
       diskriminierungsfrei leben können, sondern auch unabhängig von ihrer
       sexuellen Identität“, heißt es darin. „Lesben, Schwule, Bisexuelle,
       Transgender, Transsexuelle und intersexuelle Menschen (LSBTTI)“ seien „Teil
       unserer vielfältigen Gesellschaft“, rechtliche Ungleichbehandlungen sollen
       ebenso bekämpft werden wie sexuelle Diskriminierung und Homophobie.
       
       Teilweise befriedet wurde mit dem Landtagsbeschluss eine Debatte, die im
       Südwesten Deutschlands für massive Erregung gesorgt hatte: Gegen einen von
       der damaligen grün-roten Landesregierung in Stuttgart angeschobenen
       Bildungsplan gab es massive Proteste. 192.000 Menschen sollen eine Petition
       des Realschullehrers Gabriel Stängle mit dem Motto „Kein Bildungsplan 2015
       unter der Ideologie des Regenbogens“ unterschrieben haben. Unterstützt
       wurde Stängle von der AfD und der pietistischen „Deutschen Evangelischen
       Allianz“. Auch die Hatepage „Politically Incorrect“ schäumte.
       
       Hinzu kam eine Medienkampagne: In der Frankfurter Allgemeinen durfte der in
       München promovierte „Jugendforscher“ Martin Voigt warnen, hinter der
       „angeblichen Sensibilisierung für vielfältige Lebensformen“ verberge sich
       „Frühsexualisierung und Umerziehung“. Die Grenzen „zwischen Pädophilie und
       vermeintlicher sexueller Befriedigung von Kindern“ würden verwischt, warnte
       Voigt – und unterstellte, in den Schulen solle der Einsatz von „Dildos,
       Handschellen und Vaginalkugeln“ geübt werden.
       
       Im Norden wurde dieser Kampf gegen die sexuelle Vielfalt vor allem von der
       AfD ausgefochten. Auf der Internetseite des niedersächsischen
       Landesverbands finden sich bis heute gleich drei Videos, in denen gegen die
       diskriminierungsfreie Sexualaufklärung Stimmung gemacht wird. Eher
       schlichtere Gemüter bedient ein Zweieinhalbminüter, in dem vor
       „Gender-Ideologen“ gewarnt wird: Thesen, nach denen „ein Mädchen LKW
       fahren“ könne, führten nur zu „verwirrten Kindern“. Wer sich dagegen einen
       pseudointellektuellen Anstrich geben möchte, wird in 51 Minuten mit einem
       von der Jungen Freiheit produzierten Film mit dem hetzerischen Titel
       „Porno, Peitsche, Pädophilie – Perversion im Klassenzimmer“ bedient.
       
       Die Führer der Rechtspopulisten kommen in einem weiteren Video mit dem
       verschwörungstheoretisch klingenden Namen „Der Gender-Plan“ zu Wort –
       AfD-Landesparteichef Armin-Paul Hampel, einst ARD-Auslandskorrespondent und
       heute Bewohner eines einsam gelegenen Hauses in der Lüneburger Heide,
       schätzt sein altes Medium Film noch immer. In dem Machwerk warnt der
       Ex-Journalist vor einer „Entwertung der Familie“ durch
       diskriminierungsfreie Sexualaufklärung, die Parteivize Thomas Ehrhorn zur
       „Indoktrination“ durch „Randgruppen“ erklärt.
       
       Kronzeuge der AfD-Argumentation aber ist der Professsor Wolfgang
       Leisenberg, der titelhubrig mit allen akademischen Meriten vorgestellt
       wird. Was die Filmemacher ihren Zuschauer*innen allerdings verschweigen:
       Leisenberg ist keinesfalls Soziologe, Philosoph oder Theologe. Der
       74-Jährige ist Elektrotechniker.
       
       Als Mitglied einer freien evangelischen Gemeinde beklagt Leisenberg seit
       Jahren, „Verhaltensweisen, die vor 30 oder 40 Jahren völlig unakzeptabel
       oder sogar strafbar waren“ gälten heute als normal: „Wilde Ehen, uneheliche
       Kinder, homosexuelle Partnerschaften oder das faktische ‚Recht‘ auf
       Abtreibung.“ In dem AfD-Filmchen argumentiert er zusammengefasst so:
       Kindertagesstätten und Ganztagsschulen sollten Kinder von ihren Eltern
       „entfremden“ und durch Überbetonung des Sexuellen „sexsüchtig“ machen.
       Ihrer natürlichen Identität beraubt, würden die Heranwachsenden zum
       „unbeschriebenen Blatt“. „Hidden Agenda“ sei die Schaffung eines „neuen
       Menschen“, auf dem dann – natürlich – „der Sozialismus“ aufgebaut werden
       solle.
       
       Mit der Realität hat diese Verschwörungstheorie nichts zu tun. Natürlich
       gehe es nicht „um die Vermittlung sexueller Praktiken im Unterricht“, hatte
       Niedersachsens SPD-Kultusministerin Frauke Heiligenstadt schon bei der
       Landtagsdebatte 2014 betont. Stattdessen sollen sexuelle Selbstbestimmung
       und Toleranz gegenüber Homo-, Trans- und Intersexuellen Thema im Unterricht
       sein. Schulbuchverlage wurden entsprechend informiert, und das
       „Schlau“-Aufklärungsnetzwerk wird mit jährlich 70.000 Euro unterstützt –
       schließlich benutzten Schüler*innen die Schimpfwörter „Schwuchtel“ oder
       „Lesbe“ viel zu häufig, wie SPD und Grüne klagten.
       
       Größere Proteste gegen die rot-grüne Initiative blieben bisher aus. Das
       könnte man schon als Erfolg verbuchen.
       
       1 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Wyputta
       
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