# taz.de -- Praktizierte Nächstenliebe in Berlin: Das Heilige auf der Straße
       
       > Fast 40 Jahre lang stand seine Wohnungstür in Berlin-Kreuzberg jedem
       > offen. Der Jesuit Christian Herwartz wird jetzt etwas Neues anfangen.
       
 (IMG) Bild: Christian Herwartz in seiner WG in Kreuzberg, 2015
       
       Berlin taz | Ist das etwa der liebe Gott? Jedenfalls sieht der Obdachlose
       so aus – lange weiße Haare, Vollbart, wallendes Hemd und eine weite Hose.
       Etwas irritierend ist der zackige Spiegel, der an einer Schnur um seinen
       Hals baumelt, die nackten Füße stecken in Badeschlappen. Er drückt auf die
       Klingel der „WG Herwartz“ am Eingang des Hauses Naunynstraße 60, gleich
       neben der Kneipe Der Trinkteufel in Berlin-Kreuzberg.
       
       Die Tür öffnet sich, ohne Nachfrage. Im dritten Stock steht die Wohnungstür
       auf, verschiedene, meist nicht mehr ganz junge Menschen, tragen Tassen und
       Teller in das WG-Wohnzimmer. Es ist Samstagmorgen, und wie immer samstags
       zwischen halb zehn und halb zwölf, ist jeder, der mag, zu einem offenen
       Frühstück eingeladen. An der langen Holztafel, an der etwa 15 Leute sitzen,
       ist noch ein Platz frei, neben Christian Herwartz. Der liebe Gott neben dem
       Heiligen von Kreuzberg.
       
       Dass Herwartz ein Heiliger von heute sein könnte, das hat Pater Klaus
       Mertes mal angedeutet, ebenfalls ein mutiger Jesuit, der als Rektor des
       Canisius-Kollegs vor sechs Jahren den Missbrauchsskandal in seinem
       Gymnasium aufdeckte – und damit die katholische Kirche im Innersten
       erschütterte. Aber was ist schon heilig?
       
       ## Charme einer Studi-WG
       
       Beim Samstagsfrühstück thront Christian Herwartz jedenfalls ein wenig wie
       ein Buddha in der Mitte der Tischrunde – wer kann, bringt etwas zum Essen
       mit. Seit 1978 lebt der Priester in Kreuzberg.
       
       Hier siedelte sich seine kleine Jesuiten-Wohngemeinschaft an, die noch
       heute den gemütlich-schmuddeligen Charme einer Studenten-WG besitzt und aus
       zwei übereinanderliegenden Dreizimmerwohnungen besteht. An den Wänden
       Poster, die ein Ende der Abschiebungen von Flüchtlingen fordern. In der
       Küche hängt über der Spüle eine Postkarte: „Niemand hat die Absicht, einen
       Flughafen zu bauen.“ Eine Spülmaschine gibt es nicht.
       
       Christian Herwartz ist inzwischen der letzte Jesuit in der WG, sein
       Schweizer Mitbruder Franz Keller war Anfang 2014 nach Jahrzehnten in der WG
       gestorben.
       
       Die WG ist über die Jahre eine Anlaufstelle für alle geworden, die eine
       Bleibe für eine oder auch mehrere Nächte brauchen. Wenn die Wohnung nicht
       voll belegt ist, darf jeder bleiben, so lange er will. Manche blieben
       Jahre. Menschen aus fast 70 Nationen haben auf diese Weise in der WG
       Herwartz eine zeitweilige Unterkunft gefunden.
       
       ## In der Tradition der Arbeiterpriester
       
       Niemand wird hier gefragt, woher er kommt und warum er da ist. „Das ist
       eine Polizeifrage“, sagt Herwartz mit unerwarteter Schärfe, die man anfangs
       seiner sanften Stimme gar nicht zugetraut hätte. Der Jesuit schläft in
       einem Siebenbettzimmer mit den Leuten, die sich gerade in der WG aufhalten.
       Seit Jahrzehnten macht er das so. Weltweit gesehen, sei das doch völlig
       normal, erklärt er – und wenn er mal Ruhe oder Privatsphäre braucht, geht
       er eben für ein Stündchen in den Park.
       
       Christian Herwartz, 1943 in Stralsund geboren, ist ein massiger Mann mit
       Halbglatze und langem weißen Bart – die ideale Besetzung für eine
       Klosterbräuwerbung. Er trägt Pulli und Hose – nichts, was anzeigt, dass er
       Priester ist, nichts, was ihn von anderen unterscheidet.
       
       Seit mehr als 40 Jahren ist er Jesuit, aber keiner der vergeistigten Sorte.
       Das sieht man an seinen Händen: Es sind große Arbeiterhände, und das ist
       kein Zufall, denn Jahrzehnte lang war Herwartz ein Arbeiter. Nach dem
       Abbruch der Schule ging er – sein Vater war im Krieg U-Boot-Kommandant – in
       Kiel auf eine Werft und lernte Dreher. Später holte er das Abitur nach und
       arbeitete ab 1975 für drei Jahre in Frankreich als Arbeiterpriester.
       
       ## Das Tattoo
       
       Arbeiterpriester gab und gibt es vor allem in Frankreich, denn während des
       Kriegs folgten katholische Priester den nach Deutschland verschleppten
       französischen Zwangsarbeitern, um ihnen beizustehen. Dass sie Priester
       waren, durfte niemand wissen – sonst drohte ihnen das KZ. Noch heute halten
       Arbeiterpriester ihre Weihe in der Regel verborgen, da ihnen Entlassung
       droht, wenn ihre priesterliche Funktion im Betrieb öffentlich wird. Sie
       gelten oft als Sozialisten und Interessenvertreter der Belegschaft.
       
       Auch Herwartz hielt seine Identität als Arbeiterpriester bei Siemens in
       Berlin bis zum Jahr 2000 geheim – dann wurde er entlassen. Der Priester,
       der sich selbst als „68er“ bezeichnet und schon mit RAF-Leuten in Haft saß,
       sieht sich als Antikapitalist. Den Mauerfall etwa bezeichnet er als
       „feindliche Übernahme“ des Ostens: „Der Kapitalismus hat gesiegt.“ Das
       Äquivalent zum Auftrag Gottes an Mose, sein Volk aus Ägypten zu führen,
       wäre heute vielleicht: „Du sollst Deutschland aus dem Kapitalismus führen“,
       überlegt Herwartz. Mose ist eine wichtige Figur im Denken des Jesuiten: Den
       brennenden Dornbusch, in dem Mose Gott erkannte, hat Herwartz sich auf
       seinen linken Arm tätowieren lassen.
       
       Das Nichtfragen nach dem Woher und Wohin seiner Gäste ist Prinzip in der
       Herwartz-WG. Denn für manche hätte sich die Polizei sicher interessiert.
       Herwartz deutet auf das Bild eines vielleicht zehnjährigen blonden Mädchens
       auf der gegenüberliegenden Wand: Das Mädchen kam hierher, nach vier Monaten
       auf der Straße, mit ihrem Vater – juristisch gesehen, war es eine
       Entführung. Die alkoholkranke Mutter der Kleinen sollte nicht wissen, wo
       sie waren. Dem Mädchen drohte, erzählt Herwartz, der Missbrauch durch ihren
       neuen Stiefvater. Der war wegen solcher Taten schon verurteilt worden.
       Missbrauch, Flüchtlinge, Obdachlosigkeit, Haft – in all den Jahren haben
       sich durch die Gäste in der Kreuzberger WG viele Konflikte in der
       Gesellschaft früh abgezeichnet, sagt Herwartz.
       
       ## Von Camara bis Woelki
       
       Und vieles ist zum Weinen. Das Mädchen, das von seinem Vater entführt
       worden war und in der WG lebte, ist mittlerweile tot. Gestorben bei einem
       Brand in der Wohnung ihrer Mutter, zu der sie nach zwei Monaten in der WG
       doch zurückkehren musste. Es ist eine traurige Wand, an dem das Bild des
       Mädchens hängt. Hier befinden sich die Fotos der Toten der WG. „Sie sind
       alle noch da“, sagt Herwartz beim Frühstück.
       
       Die Toten sind willkommen, die Lebenden auch – selbst wenn es kirchliche
       Würdenträger sind. In der Kreuzberger WG-Küche saßen schon der vorherige
       und der jetzige Erzbischof von Berlin, Woelki und Koch – oder etwa der
       linke Befreiungstheologe und Erzbischof Dom Helder Camara aus Brasilien. Er
       war der erste Oberhirte, der die WG besuchte, betont Herwartz. Das passt.
       Denn der Jesuit hält nicht viel von der verfassten katholischen Kirche in
       Deutschland: Sie sei praktisch die einzige katholische Kirche weltweit, bei
       der Geld und Glaube verheiratet seien, sagt er. Die Kirchensteuer habe eben
       „ihre Folgen“, ergänzt er trocken, „ohne sie wären wir viel freier“.
       
       ## Exerzitien und Reisen
       
       An diesem Samstagmorgen findet das vorerst letzte Frühstück mit Herwartz
       statt, am Ende dieser Woche will er nach fast 40 Jahren aus der WG
       ausziehen. Die Samstagsfrühstücke gehen weiter, nur eben ohne ihn. Als sein
       Mitbruder Franz vor zwei Jahren starb, wurde ihm klar, dass nun ein
       Generationswechsel nötig wird. Was er danach macht? „Eine Idee habe ich
       noch nicht“, sagt Herwartz. Er wolle eine kleine Lesereise für sein
       neuestes Buch machen, Exerzitien geben und sich bei Leuten bedanken, die
       ihn über so viele Jahre begleitet hätten. Eine davon ist eine Freundin, die
       in der WG wohnte und nun einen Bauernhof in Süddeutschland hat – der Hof
       mit ein paar Kühen findet sich als kleines gemaltes Bild an einer Wand des
       Wohnzimmers. Es sieht nach Heimat aus.
       
       Beim Frühstück taucht plötzlich Alain auf, ein schmächtiger, klappriger
       Mann, der gerade aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Er war todkrank.
       Alain bricht fast die Stimme, als er sagt, er hätte doch noch einmal
       vorbeikommen wollen. Herwartz führt ihn mit seinen riesigen Händen fast
       zärtlich zu einem freien Stuhl. Um ihn aufzuheitern, singt ein indischer
       Gast mit eindrucksvoller Stimme am Frühstückstisch ein bengalisches
       Liebeslied. Niemand versteht ein Wort, alle verstehen alles.
       
       Mit einigen Mitbrüdern hat Herwartz die interreligiösen „Straßenexerzitien“
       entwickelt, die mittlerweile weltweit praktiziert werden. Ein Thema, über
       das er sich gerne auslässt. Die Idee dahinter ist, sich für diese geistigen
       Übungen nicht ein paar Tage lang in ein ruhiges Kloster mit Vollpension in
       einer idyllischen Landschaft zurückzuziehen. Sondern genau das Gegenteil zu
       versuchen: eine Meditation, eine Reflexion, vielleicht sogar das Erlebnis
       einer Gottesnähe im Lärm, im Dreck und im Elend der Großstadt zu suchen –
       etwa vor dem Abschiebegefängnis in Grünau, wo Herwartz mit anderen seit
       vielen Jahren gegen die deutsche Flüchtlingspolitik demonstriert und betet.
       
       ## Das Fremde zulassen
       
       In einem Aufsatz zum jüngsten von Christian Herwartz herausgegebenen Buch
       hat das Pater Mertes einmal so beschrieben: „Auf der Straße gibt es Gut und
       Böse, Begegnung und Gewalt. Die Gewaltverhältnisse, die die Armen auf die
       Straße drücken, wiederholen sich auf der Straße. Doch mittendrin kann ein
       Dornbusch brennen, der nicht verbrennt, mittendrin auf der Straße, wo alles
       offen liegt.“
       
       Es gehe dabei darum, sagt Herwartz, wie Mose vor dem brennenden Dornbusch
       die Schuhe auszuziehen, was bedeutet: sich ungeschützt einzulassen auf den
       Ort oder die Begegnung, die fremd ist, aber heilig sein könnte. Herwartz
       sucht das Heilige auf der Straße. Er findet es in jedem Menschen.
       
       16 Apr 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Philipp Gessler
       
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