# taz.de -- Terrorismus in Nigeria: Im Dorf der verlorenen Mädchen
       
       > Vor zwei Jahren haben Kämpfer der Terrormiliz Boko Haram in Chibok knapp
       > 300 Schülerinnen entführt. Von den meisten fehlt bis heute jede Spur.
       
 (IMG) Bild: Weit mehr mehr als 100 Väter und Mütter haben sich jetzt zum ersten Mal am Tatort getroffen. Sie werfen der Regierung Versagen und Schlamperei vor
       
       CHIBOK taz | Amos Lawan versucht ruhig zu bleiben. Doch irgendwann kann er
       nicht mehr. Die Stimme des großen, hageren Mannes mit dem zerfurchten
       Gesicht bebt: „Die Politiker spielen doch nur mit uns“, platzt es aus ihm
       heraus, „und die Regierung hat keine Ahnung.“ Um sich unter Kontrolle zu
       bringen, atmet er zweimal tief durch und hört lieber nicht genau zu, was
       die Frauen und Männer sagen, die mit ihm im Schatten der hohen Bäume
       sitzen. Es würden ihn nur noch wütender und trauriger machen.
       
       Politikerschelte ist normal in Nigeria und täglich millionenfach zu hören.
       Aber Lawans Ausbruch hat eine andere Qualität: Er wird immer deutlicher,
       wie sehr die Regierung bei der Suche nach den 219 entführten Mädchen von
       Chibok geschlampt hat. „Meine Tochter Comfort ist unter ihnen“, sagt er.
       Seit genau zwei Jahren hat er nichts mehr von ihr gehört.
       
       Es geschah in der Nacht zum 15. April 2014. Ohne jeglichen Widerstand
       konnten Kämpfer der Terrormiliz Boko Haram in die Schlafsäle der
       staatlichen weiterführenden Schule von Chibok eindringen und 276
       Schülerinnen zwischen 16 und 18 Jahren in ihre Gewalt bringen. Bisher
       gelang nur 57 die Flucht.
       
       Die ersten Informationen, die nach und nach an die Öffentlichkeit drangen,
       klangen bizarr und unwirklich. Knapp 300 entführte Schülerinnen müssten
       doch auffallen, hieß es. Nur den Eltern war sofort klar, dass ihnen etwas
       Schlimmes zugestoßen sein musste, hatten sie doch kein Lebenszeichen ihrer
       Töchter mehr.
       
       ## #Bringbackourgirls auf Twitter
       
       Dabei wusste man schon vorher, dass die Region völlig unzureichend
       geschützt ist. Im Jahr davor hatte Boko Haram mehrfach Schulen überfallen
       und junge Männer ermordet. Das öffentliche Entsetzen hielt sich aber in
       Grenzen. Auch die Entführung der Mädchen machte im Westen erst
       Schlagzeilen, als die Twitter-Kampagne #Bringbackourgirls weltweite
       Aufmerksamkeit auf sich zog.
       
       Der Wind trägt die Worte von Elternvertreter Yakubu Nkeki herüber, der
       seinen Kummer ins Mikrofon brüllt. „Warum hat es erst geheißen, alle
       Schulen werden aus Sicherheitsgründen geschlossen, um Chibok zwei Wochen
       später wieder zu öffnen? Warum haben andere Schüler ihre Abschlussprüfungen
       in Maiduguri schreiben dürfen, wo es einen besseren Schutz gibt? Nur unsere
       Mädchen mussten plötzlich zurück nach Chibok.“
       
       Die Eltern waren der Aufforderung gefolgt, sollten ihre Töchter doch einen
       besseren Abschluss und ganz andere Chancen als sie selbst haben. Ihr
       Vertrauen kam sie teuer zu stehen.
       
       Weit mehr als 100 Väter und Mütter treffen sich heute zum ersten Mal am
       Tatort. Während sie Nkeki zuhören, diskutieren oder schweigend zu Boden
       starren, blickt Amos Lawan in Richtung Schulgebäude. Viel zu sehen ist dort
       nicht. Es stehen nur noch die Grundmauern, die außen sandgelb und innen
       mintgrün sind.
       
       ## In der Schule gibt es keine Tische und Stühle mehr
       
       Die Boko-Haram-Kämpfer haben das Gebäude bei ihrem Überfall vor zwei Jahren
       in Brand gesteckt. Nun gibt es in den Räumen keinen einzigen Tisch, keine
       Bank oder Tafel mehr. Dafür wuchert überall trockenes, gelbes Gras. Der
       Regen muss in diesem Jahr erst noch kommen. Es hieß einige Male, dass die
       Schule bald wieder öffnet. Aber wie soll das gehen, in diesem Zustand?
       
       Doch es ist nicht nur die zerstörte Infrastruktur, sondern vor allem die
       Frage nach der Sicherheit. Boko Haram hat Chibok immer wieder überfallen.
       Der letzte Selbstmordanschlag passierte im Januar. Auf dem Weg in den Ort
       gibt es heute viele Militärposten, wenn man aus Yola, der Provinzhauptstadt
       des südlich angrenzenden Bundesstaates Adamawa, anreist.
       
       Irgendwann hört man auf, sie zu zählen, die provisorisch
       zusammengeschusterten Konstruktionen, Sandsäcke, dann Baumstämme, alte
       Ölfässer oder ausgebaute Türen von schrottreifen Autos. Immerhin zwingen
       sie die Fahrer, das Tempo zu drosseln. Mal schauen Soldaten ins Auto, mal
       Mitglieder der lokalen Bürgerwehr. Doch wer nicht verdächtig aussieht, wird
       durchgewinkt.
       
       Auch am südlichen Ortsrand von Chibok tun ein paar Soldaten ihren Dienst.
       Dort steht eine klapprige Schranke, die den Weg in den Ort zumindest
       erschweren soll. Bis zur Schule sind es jedoch noch einige Kilometer. Kein
       einziges Stückchen der Straße ist asphaltiert. Durch ein großes Schlagloch
       muss man extrem langsam fahren. Bis heute dürfte es in dieser entlegenen
       Gegend nicht einmal Stunden brauchen, um Menschen verschwinden zu lassen.
       
       ## Die Regierung will keine Besucher in der Region
       
       Das Treffen der Eltern findet hier zwar unter großen
       Sicherheitsvorkehrungen statt. Um die Gruppe herum haben sich Soldaten und
       Polizisten positioniert. Das liegt auch daran, dass Aisha Muhammed-Oyebode
       daran teilnimmt. Sie ist die Tochter des 1976 ermordeten nigerianischen
       Militärherrschers Murtala Muhammed und leitet die Stiftung mit gleichem
       Namen.
       
       Diese hat die Zusammenkunft initiiert wie auch die für heute geplante
       Gedenkfeier. Sie gilt als Sensation, da sie von der Regierung abgesegnet
       wurde. Denn eigentlich wollen die Machthaber dort keine Besucher haben. Für
       eine Reise in die Region braucht es noch immer eine Genehmigung, die das
       Militär nicht freiwillig ausstellt.
       
       Amos Lawan hat einen Moment geschwiegen. Die Falten wirken nun noch tiefer
       als zu Beginn des Gesprächs. Auf die Frage, ob er sich sicherer fühlt als
       vor zwei Jahren, widerspricht er sich. „Ja, es sind zwar mehr Soldaten
       hier“, sagt er, um zwei Sätze später zu relativieren: „Aber ganz ehrlich:
       Ich weiß nicht, ob sie uns wirklich helfen, sollte wieder etwas passieren.
       Vielleicht haben sie andere Pläne.“
       
       Die hatten sie anscheinend vor zwei Jahren, als die Boko-Haram-Kämpfer
       kamen und Comfort und alle anderen Mädchen holten. Knapp vier Wochen nach
       dem Vorfall veröffentlichte Amnesty International einen Report mit
       brisantem Inhalt: Im Hauptquartier Maiduguri soll kaum vier Stunden vor dem
       Überfall eine Warnung eingegangen sein. Aber nichts passierte. Auch wird
       erzählt, dass die Schülerinnen sogar angewiesen wurden, in ihren
       Schlafsälen zu bleiben.
       
       ## Angst, Trauer, Ungewissheit
       
       Viele Details waren längst bekannt. Aber im Kopf von Comforts Vater setzen
       sie sich erst jetzt zu einem vollständigen Bild zusammen. Er ist froh, dass
       seine Frau nicht dabei ist. „Das wäre zu viel für sie gewesen“, erklärt er
       fast entschuldigend. Man spürt, wie er in Gedanken zu Hause bei seiner
       Familie ist, in einem Haushalt, in dem es keine Freude mehr gibt, sondern
       Angst, Trauer und Ungewissheit. Dafür muss er nicht einmal sprechen.
       
       Lawan ist ein einfacher Mann, ein Bauer, wie fast alle hier. Comfort wäre
       jetzt 20 Jahre alt. Seit ihrer Entführung kann Lawan nicht mehr arbeiten,
       häufig nicht einmal mehr essen. „Manchmal bringe ich viel Essen mit nach
       Hause. Aber wenn ich es dann sehe, fühle ich mich so voll, so satt.“ Er
       schluckt, fängt sich aber schnell wieder.
       
       Dabei schien sich vor einem Jahr das Blatt zu wenden, als Muhammadu Buhari
       zum Präsidenten gewählt wurde. Vorgänger Goodluck Jonathan hatte in der
       Chibok-Affäre eine denkbar schlechte Figur abgegeben. Nach fast drei Wochen
       äußerte er sich überhaupt zum ersten Mal zu dem Vorfall. In den Monaten
       danach sagte er ein paar Mal: „Wir werden die Mädchen bald finden.“
       Spätestens nach dem zweiten Mal dürfte ihm das niemand mehr geglaubt haben.
       
       Buhari war ehrlicher und verkündete vor einem Jahr: Er wisse nicht, ob die
       Mädchen noch lebend gefunden werden, aber er wolle alles dafür tun. In
       Nordnigeria herrschte Hoffnung und Aufbruchstimmung. Bis nach Chibok kamen
       einige Politiker, um mit den Eltern zu sprechen. Seitdem hat Amos Lawan
       nichts mehr von ihnen gehört. Auch passiert ist nichts. In den vergangenen
       Tagen gingen zwar Gerüchte um, dass es eine Lösegeldforderung für die
       Mädchen gibt . Doch der Wahrheitsgehalt wird bezweifelt.
       
       ## Comforts Vater bleiben nicht einmal mehr Fotos
       
       Amos Lawan würde gern ein Foto seiner Tochter zeigen, auf die er so stolz
       ist. Er sagt es nicht, aber es ist deutlich zu spüren. Um das Mädchen auf
       die Schule zu schicken, musste er seine letzten Naira zusammenkratzen. Gut
       habe sie gelernt, und der Vater wollte alles tun, um sie zu unterstützen.
       „Ich habe alle Bücher und das ganze Material gekauft, das die Schule
       gefordert hat. Sie sollte studieren und es weit bringen.“
       
       Nun hat der Vater nicht einmal mehr ein Bild seiner Tochter. Boko Haram hat
       ihm nicht nur sein Kind genommen, sondern auch sein Haus niedergebrannt.
       Ein paar Monate nach der Entführung gelang es den Kämpfern, in Richtung
       Süden vorzudringen. Nachdem er und seine Frau vor dem Nichts standen,
       flohen sie zuerst nach Mubi, dann nach Yola. Auch dort suchte er Comfort –
       ohne Erfolg.
       
       Ob er noch Hoffnung hat? „Wenn ich euch heute sehe, dann habe ich sie
       wieder“, sagt Amos Lawan. Die Worte hat er sich nicht zurechtgelegt, er
       möchte nicht höflich oder diplomatisch klingen. Was er sagt, ist mehr als
       ernüchternd: Er hat mehr Vertrauen in eine Stiftung und drei Journalisten,
       die für nicht einmal zwei Stunden in Chibok sind und die er nicht kennt,
       als in die Regierung und die gesamte Armee seines Heimatlandes Nigeria.
       
       14 Apr 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katrin Gänsler
       
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