# taz.de -- Buch über Opfer von Boko Haram: Voller Kraft und Lebensmut
       
       > Wolfgang Bauer lässt Frauen zu Wort kommen, die von der nigerianischen
       > Terrormiliz fliehen konnten. Es sind Begegnungen auf Augenhöhe.
       
 (IMG) Bild: Ein Fahndungsplakat mit mutmaßlichen Mitgliedern der Terrormiliz Boko Haram
       
       Seit dem demokratischen Machtwechsel im Mai 2015 scheint sich die Lage
       beruhigt zu haben in Nigeria, einem sowohl entlang religiöser als auch
       geografischer Linien in sich tief gespaltenen Land. Islamistischer Terror,
       gewaltsame Konflikte, hohe Kriminalität sowie endemische Korruption und
       Armut haben Nigeria zugesetzt.
       
       Eine zentrale Rolle in dieser Gemengelage sich gegenseitig bedingender
       Faktoren spielt die Terrormiliz Boko Haram, die sich die Schwäche des
       Staates zunutze macht und versucht, auf äußerst gewaltsame Art und Weise
       die Scharia durchzusetzen und dabei in ihrem Versprechen auf Linderung des
       Elends mittels radikaler Ablehnung westlicher Lebensstile schnell Zulauf
       fand.
       
       Neben zahlreichen Morden und Plünderungen zählt vor allem die Entführung
       Zehntausender Mädchen und Frauen zu den favorisierten Mitteln der Miliz
       Boko Haram, um ihre Ziele in die Tat umzusetzen. Die Frauen werden
       wahlweise zwangsverheiratet oder zu Selbstmordattentäterinnen ausgebildet
       und massenweise misshandelt.
       
       In „Die geraubten Mädchen“ lässt Wolfgang Bauer die Frauen selbst zu Wort
       kommen, die es geschafft haben, Boko Haram zu entkommen. Die Schilderungen
       der Frauen offenbaren hierbei nicht nur etwas über das Ausmaß an
       Brutalität, das die Terrorsekte bei ihrem Vorgehen an den Tag legt, sondern
       vermitteln darüber hinaus ein vielschichtiges Bild der Lebensumstände, die
       sie geprägt haben. Die Erfahrungsberichte kamen durch Interviews zustande,
       die Bauer vor Ort mit den Frauen führte. Im Buch werden sie unterbrochen
       durch Textpassagen Bauers, die Stück für Stück weitere
       Hintergrundinformationen über das sozialpolitische Klima liefern, in dem
       Boko Haram so prächtig gedieh.
       
       Für die Menschen vor Ort war eine terroristische Gruppierung, wie Boko
       Haram („Westliche Bildung ist Sünde“) sie darstellt, zunächst einmal nichts
       Überraschendes: Der Norden Nigerias hatte schon seit Jahrzehnten immer
       wieder radikale terroristische Gruppierungen hervorgebracht. Deren
       Mitglieder schlossen sich Boko Haram in der Hoffnung auf eine
       Zukunftsperspektive für sich und ihre Familien an. Dementsprechend erfuhr
       die Gruppe zunächst einmal keine sonderliche Beachtung. Beste Bedingungen,
       unbeobachtet von der Öffentlichkeit die eigene Herrschaft im Stillen
       auszuweiten.
       
       Westliche Medien berichteten erstmals groß über Boko Haram, als in der
       Kleinstadt Chibok 276 Mädchen beim Schreiben ihrer Abschlussprüfungen aus
       einer staatlichen Schule entführt und Kampagnen gestartet wurden, die
       Mädchen wieder zu befreien. Zu diesem Zeitpunkt hatte Boko Haram schon
       jahrelang geplündert, gemordet und vergewaltigt.
       
       ## Thema der Vergewaltigungen konsequent ausgespart
       
       Wolfgang Bauer sprach mit 15 verschiedenen Frauen, denen es zum Zeitpunkt
       der Interviews vorerst gelungen war, sich vor Boko Haram in Sicherheit zu
       bringen. In den Gesprächen erzählen sie vom Leben, das sie vor der
       Übernahme ihrer Heimatdörfer durch Boko Haram führten, sie schildern die
       Vorgehensweise der Terrorsekte bei ihrem Einfall in Ortschaften und ihre
       Angst vor dem nigerianischen Militär, das bei dem Versuch, Boko Haram in
       die Schranken zu weisen, ebenso gewaltsam vorging wie die Terrorsekte
       selbst und dabei unzählige zivile Opfer forderte.
       
       Sie berichten von langen Episoden der Flucht, von Morden und von ihrer
       Abneigung den Männern gegenüber, mit denen sie zwangsverheiratet wurden,
       und sie erzählen auch von der Brutalität ihrer „neuen“ Ehemänner, wobei
       jedoch konsequent das Thema der Vergewaltigungen ausgespart wird.
       
       Trotz der widrigen Lage, in der viele der Frauen auch schon vor dem Einfall
       Boko Harams gelebt haben, sind sie jedoch alles andere als verzagt: Sie
       haben große Träume und halten an ihnen fest, trotz (oder vielleicht auch
       gerade wegen) der Schrecken, die sie erleben mussten und vor denen sie sich
       immer noch nicht sicher wähnen können. Sie haben ihre Hoffnung, vor allem
       aber ihre Würde nicht verloren. Durchweg berichten sie sachlich und ruhig
       über die Grausamkeiten, die ihnen widerfuhren, ohne dabei jemals leidend
       oder vorwurfsvoll zu sein.
       
       So erwähnt die 14-jährige Talatu, gerade ihren Peinigern entkommen und
       offensichtlich traumatisiert von dem, was sie durchlitten hat: „Nach der
       Schule werde ich heiraten. Nicht früher, erst danach. Und dann will ich
       Ärztin werden. Ich kenne niemanden in meinem Dorf, der je Arzt geworden
       ist. Ich weiß nicht, wie ich Ärztin werden kann. […] Aber das ist mein
       Traum.“
       
       Sätze wie der Talatus berühren tief und lassen einen mindestens genauso
       tiefen Respekt empfinden vor der Kraft, dem Lebensmut und der Zuversicht
       der Frauen. Gleichzeitig fühlt man sich, je tiefer man in die Zusammenhänge
       und Strukturen einsteigt, von denen Boko Haram nur die Spitze des Eisbergs
       darstellt, zunehmend inkompetent auf der Suche nach Auswegen aus diesem
       Drama, das sich schon seit Jahren nicht nur im Norden Nigerias abspielt,
       sondern auch in den Anrainerstaaten.
       
       Die Berichte der Frauen sind auch schmerzhaft. Zum einen aufgrund ihrer
       grausamen Inhalte, zum anderen aber auch, weil sie uns in der Zentriertheit
       unseres Blickwinkels und in unserer eingeschränkten Wahrnehmung dessen, was
       wir „unsere“ Welt nennen, einen Spiegel vorhalten.
       
       Bauer schafft es in seinem Buch, Begegnungen auf gleicher Ebene
       herzustellen. Das lässt auf LeserInnenseite viel Raum für Empathie, die
       ganz ohne ohnmächtige Betroffenheit auskommen kann.
       
       24 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Annika Glunz
       
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