# taz.de -- Katja Kippings neues Buch: Wir sitzen im kapitalistischen Boot
       
       > Freihandel und Wirtschaftsimperialismus: Linkenchefin Katja Kipping geht
       > in „Wer flüchtet schon freiwillig“ globalen Fluchtursachen auf den Grund.
       
 (IMG) Bild: Das Buch: Gelegenheit, Forderungen nach Sozialgarantie, Gerechtigkeit oder Bildung für alle zu wiederholen
       
       Das Foto einer Flüchtlingsgruppe ist nur im Hintergrund der Titelseite von
       Katja Kippings Buch „Wer flüchtet schon freiwillig“ zu entdecken. Es
       dominiert das Foto einer 38-jährigen jungen Frau, die eher sorgenvoll und
       ein bisschen visionär in eine ungewisse Ferne blickt. Das faktenreiche und
       mit Leidenschaft geschriebene Buch der Linken-Bundesvorsitzenden ist aber
       alles andere als ein narzisstisches Werk. Hier schreibt eine, die dem
       globalen Migrationsphänomen auf den Grund gehen will.
       
       Marxistisches Hinterkopfwissen erscheint dabei als Voraussetzung für eine
       analytische Einordnung der furchtverbreitenden Flüchtlingsströme. Wie es
       der Untertitel, „Warum sich unsere Gesellschaft neu erfinden muss“,
       andeutet, werden über 202 Seiten wiederkehrend Verwerfungen des sich
       radikalisierenden kapitalistischen Systems als Generalursache benannt.
       
       Die jetzt buchstäblich an unsere Haustüren klopfenden Flüchtlinge führen
       uns die „Ungerechtigkeit unserer Weltwirtschaftsordnung“ drastisch vor
       Augen. Es wird nicht mehr funktionieren, sich in ebenfalls nur noch
       scheinbar intakte Wohlstandsgettos einzuzäunen und die Weltkonflikte zu
       ignorieren. „Das Verdrängte wird sichtbar“, lautet eine Kapitelüberschrift.
       
       Wenn Millionen Migranten also eine Folgeerscheinung sind, lotet Katja
       Kipping zunächst Ursachen aus. Sie zählt westliche Freihandelspolitik,
       Landgrabbing und Oceangrabbing auf, einen Wirtschaftsimperialismus, von dem
       wir auch mittelbar profitieren. Mit der „knallharten Interessenpolitik für
       Konzerne und Reiche“, mit den sämtlich fehlgeschlagenen angeblichen
       Befriedungseinsätzen der Bundeswehr, mit massiven Waffenexporten in
       Krisengebiete betrachtet die Linken-Kovorsitzende Deutschland selbst als
       „Brandstifter“. Bemerkenswert: Auch Putins Luftangriffe, die neue
       Flüchtlingswellen ausgelöst haben, werden von Kipping attackiert.
       
       Die Autorin widmet sich auch dem überwiegend von den Industrieländern
       verursachten Klimawandel als Fluchtursache. Von einer „grenzübergreifenden
       Schicksalsgemeinschaft“ ist die Rede.
       
       Aus diesen Beispielen formuliert sie eine Agenda, die zwar logisch, aber
       etwa beim Verbot von Rüstungsexporten auch utopisch erscheint. Die
       zentralen Schlussfolgerungen finden sich schon in der Mitte des Buches. Es
       geht um eine „Exitstrategie aus dem Krisenkapitalismus“ hin zu einem
       „sozialen Universalismus“, einem neuen „New Deal“. Später tauchen
       Schlagworte wie „Common-Ökonomie“ noch einmal auf. Entweder wir schaffen
       den Aufbruch in einen Postkapitalismus oder landen in einer fragmentierten
       und barbarisierten Gesellschaft auch bei uns, prophezeit die Autorin.
       
       Die zweite Buchhälfte projiziert diesen Welt-Evolutionsanspruch auf
       deutsche und europäische Verhältnisse. Gelegenheit, linke Forderungen nach
       Sozialgarantie, Gerechtigkeit oder Bildung für alle zu wiederholen. Katja
       Kipping entlarvt aber auch die politisch „inszenierte Überforderung“
       hierzulande, sieht in der „Statuspanik“ die wahre Ursache für die schon vor
       den Flüchtlingen latente Angstgesellschaft. Seitenhiebe auf den historisch
       unhaltbaren Begriff der Leitkultur stehen neben Dank und Ermunterung an
       Flüchtlingshelfer. In der Summe böten Flüchtlinge die Chance zur
       Vitalisierung einer Gesellschaft, die sich nach der Überzeugung Kippings
       auch ohne diese Herausforderung „neu erfinden“ muss, um eine Zukunft zu
       haben.
       
       29 Mar 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Bartsch
       
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