# taz.de -- Animation „Die Melodie des Meeres“: Die kleine Schwester als Fabeltier
       
       > Der Film beschwört mit traditioneller Zeichentechnik volkstümliche
       > irische Mythen herauf. Doch seine Nostalgie bleibt bedeutungslos.
       
 (IMG) Bild: Unterwasserwelten in klassischer Aquarelltechnik: Szene aus „Die Melodie des Meeres“ mit Saoirse, noch in Menschengestalt.
       
       Eine Art Urszene: Der junge, blonde, fröhliche Ben wird von seinen Eltern
       ins Bett gebracht. Die hochschwangere, fragil anmutende Mutter überreicht
       ihm eine Muschel, bevor sie ihn zudeckt. Es folgt eine Totale, die die
       Szene in einen harmonisch organisierten Kosmos einordnet: Die Welt ist
       rundum in Ordnung und die Kleinfamilie ihr natürliches Zentrum.
       
       Als die Mutter das Zimmer verlässt, bemerkt Ben gerade noch, wie die Wehen
       einsetzen; schon schleicht sich der Unmut in seine Gesichtszüge. In der
       nächsten Szene ist der Junge ebenso wie der bullige Vater ein paar Jahre
       älter, und er hat eine Schwester namens Saoirse, die wie das Ebenbild der
       Mutter ausschaut – die Mutter selbst ist, zunächst ohne genauere Erklärung,
       nicht länger Teil der Familie.
       
       Und jetzt ist gar nichts mehr in Ordnung: Der Vater ist melancholisch
       geworden und steht stur ins Nichts blickend hoch oben auf dem Leuchtturm,
       den er auf einer Insel vor der Küste Irlands betreibt. Ben unternimmt zwar
       neugierige Ausflüge in die Umgebung, Saoirse behandelt er jedoch reichlich
       garstig.
       
       Das Mädchen wiederum ist zwar schon sechs Jahre alt, hat aber noch nicht
       angefangen zu sprechen und verzieht sich bei jeder Gelegenheit in ihre
       eigene Welt – in der die Muschel, die die Mutter eingangs Ben überreicht
       hatte, eine entscheidende Rolle zu spielen scheint. Nur Cú, der
       Familienhund, ist in seiner flauschigen Rundlichkeit mit sich und seinem
       Dasein zufrieden. Vorläufig.
       
       Wie in vielen Animationsfilmen sind auch in „Die Melodie des Meeres“ die
       ersten Minuten die schönsten; weil man nicht nur, wie in jedem Film, eine
       neue Welt kennenlernt, sondern auch dabei zusehen kann, wie eine Welt
       entworfen, geformt, eingefärbt wird, Pinselstrich für Pinselstrich. In
       diesem Fall ist das wörtlich zu verstehen: Der zweite Film des
       Animationsspezialisten Tomm Moore setzt sich von den im Genre dominierenden
       computeranimierten Welten dadurch ab, dass er auf traditionelle
       Zeichentechnik setzt.
       
       ## In matten Tönen gehalten
       
       Wobei es eine interessante Differenz gibt zwischen den Figuren und der
       Welt, durch die sie sich bewegen: Die Menschen sind mit klaren Linien und
       in rosig-lebendigen Farben gemalt und flüssig animiert, einige von ihnen
       könnten fast einem altmodischeren Disney-Film oder, aufgrund ihrer
       riesigen, kreisrunden Köpfe, japanischen Animes entstammen; die
       Hintergründe gestaltet Moore abstrakter: Die Figuren bewegen sich vor eher
       skizzierten als vollständig ausgemalten Tableaus, die zumeist in matten
       Tönen gehalten und mit Spiralen oder anderen Schnörkeln verziert sind.
       
       Die gestalterische Grundidee, halbwegs realistisch animierte Charaktere in
       hochgradig stilisierte Umgebungen zu setzen, hat zunächst einigen Reiz. Vor
       allem der Leuchtturm ist ein toller Schauplatz: Ein Felsen ragt hoch über
       dem Wasser auf, ein harscher Klotz, der das fantasievoll schraffierte, in
       diversen Blautönen schillernde Naturspektakel jenseits der Küste von der
       bräunlich-grünen Zivilisation scheidet.
       
       Die Familie des Leuchtturmwärters scheint von der Schönheit, die sich um
       sie herum entfaltet, selbst überwältigt und sucht nach Gelegenheiten, in
       ihr aufzugehen, Teil von ihr zu werden. Besonders toll ist eine Szene, in
       der Saoirse dem Ruf des Meeres folgt und sich, zwischen freundlichen
       Robben, in ein weiß gleißendes Fabeltier verwandelt. Man mag das zuerst für
       einen Traum oder eine Wunschvorstellung halten. Aber das täuscht.
       
       ## Die Natur ist eingehegt
       
       Die Darstellung der Stadt, in die Ben und seine Schwester alsbald von einer
       im doppelten Wortsinn nicht eben sympathisch gezeichneten Großmutter
       verschleppt werden, wirkt schon deutlich weniger inspiriert – obwohl gerade
       Halloween gefeiert wird. Da mag durchaus Absicht dahinterstecken: Im
       urbanen Raum ist die Balance zwischen menschlicher Schaffenskraft und den
       Formkräften der Elemente nicht mehr gewährleistet, die Natur ist eingehegt,
       zum Beispiel auf einer überwucherten Verkehrsinsel, in deren Mitte die
       beiden Hauptfiguren eine Entdeckung machen.
       
       Was wiederum dazu führt, dass die beiden sich kurz darauf auf eine Reise
       begeben, die in mindestens zweifacher Hinsicht rückwärtsgewandt ist: Zurück
       zum Leuchtturm und den Robben im Meer soll es gehen, aber auch zurück in
       die Erinnerung, zurück zur verschwundenen Mutter, zurück zur verloren
       gegangenen Kleinfamilie. Vielleicht außerdem noch: zurück in eine
       volkstümliche irische Mythologie, in der es von Feen und Zaubereulen nur so
       wimmelt.
       
       Sobald die Geschwister die Stadt verlassen, wird „Die Melodie des Meeres“
       endgültig zu einem Fantasyfilm. Und leider werden genau an der Stelle auch
       die Probleme des Films deutlicher sichtbar.
       
       ## Welt der Fantastik
       
       Denn Moore macht es sich etwas zu einfach, wenn es darum geht, die
       Alltagswelt der jungen Hauptfiguren mit der Welt der Fantastik, der
       beseelten Natur in Verbindung zu setzen – beziehungsweise belässt er es
       dabei, die eine durch die andere zu ersetzen, und zwar möglichst
       vollständig und rückstandslos.
       
       Dabei hat er sogar eine schöne visuelle Idee für diesen Übergang: Immer
       wieder wird Bens Schwester von glühwürmchengleichen goldenen Lichtkugeln
       aus dem Alltagsleben hinaus- und in die Welt der Feen hineingeleitet.
       Allerdings ist das jüngere der beiden Geschwister von Anfang an eher ein
       Fabelwesen, das allseitig bestaunt und umsorgt wird, dessen Blick auf die
       Welt den Film aber nicht wirklich interessiert.
       
       Ben dagegen ist im ersten Filmabschnitt eine ambivalente Figur voller
       Sturheit und Eigensinn. Die ihm dann gründlich ausgetrieben wird, wenn er
       sich im weiteren Verlauf in einen bloßen Erfüllungsgehilfen der Mythologie
       verwandelt: Brav hetzt er von Schauplatz zu Schauplatz, absolviert Aufgabe
       um Aufgabe, um am Ende mit dann leider doch reichlich verkitschten
       Transzendenzpanoramen belohnt zu werden.
       
       ## Sehnsucht nach dem Ewiggleichen
       
       Er lernt dabei zwar eine „weltliche” Lektion: Sei nett zu deiner Schwester!
       Das ändert aber nichts daran, dass die Begegnung mit dem Außergewöhnlichen
       Bens Welt nicht reicher macht, sondern sie auf die Sehnsucht nach dem
       Ewiggleichen reduziert.
       
       Nun ist Nostalgie ein zentrales Konzept zahlloser Kinder- und Jugendfilme;
       und völlig zu Recht, da Nostalgie ein zentraler Bestandteil fast jeder
       Jugend im echten Leben sein dürfte.
       
       Aber es macht einen Unterschied, ob die Sehnsucht nach dem verlorenen
       Paradies der Kindheit, wie etwa zuletzt im wunderbaren japanischen
       Coming-of-Age-Zeichentrickfilm „Erinnerungen an Marnie“, eine Differenz in
       die entzauberte Gegenwart einträgt und dadurch einen neuen Blick aufs
       eigene Leben ermöglicht; oder ob es nur darum geht, durch 1001 Schnörkel
       hindurch die mythologische Mutter wiederzufinden.
       
       24 Dec 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lukas Foerster
       
       ## TAGS
       
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