# taz.de -- Zwei Filme aus Haiti: Eine Welt, in der noch alles zittert
       
       > Ein Eifersuchtsviereck im Zeichen des Erdbebens, der Politikbetrieb als
       > absurde Ballettaufführung: „Mord in Pacot“ und „Moloch Tropical“.
       
 (IMG) Bild: Müssen in die Gartenhütte ausweichen: der namenlose Mann (Alex Descas) und die namenlose Frau (Joy Olasunmibo Ogunmaki) in „Mord in Pacot“.
       
       Eigentlich ist alles schon vorbei, wenn der Film einsetzt: Raoul Pecks
       „Mord in Pacot“ beginnt unmittelbar nach dem verheerenden Erdbeben, das
       Haiti im Jahr 2010 verwüstete. Der Film versucht nicht, die Katastrophe,
       die mehreren Hunderttausend Menschen das Leben kostete, direkt zu
       beschreiben oder nachträglich noch einmal zu einem Objekt der Schaulust zu
       machen; er registriert lediglich Nachbeben verschiedener Art:
       physikalische, emotionale, soziale. „Mord in Pacot“ (ab 17. September im
       Kino) spielt in einer Welt, in der noch alles zittert: die Häuser, oder was
       noch von ihnen steht, genauso wie die Menschen, die sie einst bewohnt
       haben.
       
       Die beiden Protagonisten bleiben namenlos, im Abspann steht lediglich: der
       Mann, die Frau. Dennoch sind das keine rein exemplarischen Figuren, keine
       anonymen Platzhalter. Peck verortet die beiden sehr genau: Vor dem Erdbeben
       gehörten sie der oberen Mittelschicht an, vor ihrem großen Haus hatten sie
       einen Pool ausgehoben, sie konnten einen Hausangestellten bezahlen, in
       ihrer Freizeit bereisten sie Europa.
       
       Aber all das erfährt man erst später. Zuerst stehen einfach nur zwei
       Menschen vor dem Nichts. In den ersten, ergreifenden Filmminuten ist die
       Hilflosigkeit geradezu greifbar. Blicke und Bewegungen bekommen nichts mehr
       zu fassen, gehen ins Nirgendwo, Lähmung greift um sich. Auch die
       Horrormeldungen, die aus der Stadt ins Anwesen der beiden dringen, scheinen
       kaum zu ihnen, die sich in ihrer Hilflosigkeit gegenseitig nicht beistehen,
       sondern sich nur gemeinsam in ihr verschließen können, durchzudringen.
       
       Dann läuft die Welt langsam wieder an, es hilft schließlich nichts, man
       muss sich wieder rühren, der Alltag hat sich verändert, er schafft neue
       Routinen, zementiert neue Machtverhältnisse. Und auch die Maschinerien des
       Erzählkinos kommen in Schwung. Weitere Figuren treten hinzu: Um den
       Wiederaufbau ihres Anwesens finanzieren zu können, nimmt das Paar Alex,
       einen Mitarbeiter einer Hilfsorganisation, als Mieter auf. Alex’
       Arbeitgeber trägt den vielsagend schwachsinnigen Namen „Beyond Aid
       Unlimited” und produziert vor allem schöne Fotos von weißen Helfern und
       schwarzen Hilfebedürftigen. Tatsächlich ist das ein zentrales politisches
       Motiv des Films: die Kritik am System der internationalisierten
       Entwicklungshilfe.
       
       ## Kontraproduktive Hilfe
       
       Aus dieser Perspektive ist „Mord in Pacot“ die fiktionale Ergänzung eines
       Dokumentarfilms, den der seit Beginn seiner Karriere (an der Berliner
       Filmschule dffb) in ganz unterschiedlichen Genres aktive Peck parallel,
       ebenfalls als unmittelbare Reaktion auf das Erdbeben von 2010, drehte:
       „Assistance mortelle“, der 2014 auf der Berlinale präsentiert wurde,
       verstand sich als eine harsche Anklage gegen moralisch selbstgefällige,
       zynische (der Oberentwicklungshelfer Bill Clinton nannte das Erdbeben und
       den anschließenden Wiederaufbau „die größte Chance, die Haiti je hatte”)
       und gegen ökonomisch kontraproduktive Hilfsprogramme; und er richtete
       gleichzeitig ein eindringliches Plädoyer an Entwicklungsländer, sich nicht
       auf die Wohltaten ausländischer NGOs zu verlassen, sondern auf
       Selbstorganisation zu bestehen.
       
       Der als eine Art Kammerspiel unter freiem Himmel und außerdem in Sichtweite
       zum klassischen Film noir angelegte „Mord in Pacot“ will solche Thesen
       weniger auserzählen als verkomplizieren. Das beginnt damit, dass der neue
       Mieter nicht allein in das hochgradig baufällige Haus einzieht, sondern
       seine haitianische Freundin mitbringt: Andrémise ist eine junge Frau, die
       einerseits von einem neuen Leben (mit neuem Namen sogar) in Frankreich
       träumt, die aber andererseits auch nicht von der alten Liebe, die ihr aus
       dem Heimatort nachgereist kommt, lassen will – und die außerdem die längst
       erkaltete Beziehung ihrer beiden Gastgeber ordentlich durcheinanderwirbelt.
       
       Gerade an dieser Rolle sieht man, dass Peck mit prononcierten Gegensätzen
       arbeitet: Wo ihre junge Mieterin laut lebt und liebt, bleibt die Hausherrin
       beim Sex still, und beim Tanzen schließt sie die Augen. Ähnlich deutlich
       buchstabiert Peck die politischen Dimensionen seiner Erzählung aus. Die
       schlagen sich bereits in der räumlichen Anordnung nieder: Die einstigen
       schwarzen Hausherren müssen in die Gartenhütte ausweichen, in ihrem Ehebett
       schläft der weiße Wohltäter mit seiner Geliebten. Und in den Trümmern unter
       dem Haus ist möglicherweise ein dunkles Geheimnis verborgen. Jedenfalls
       riecht es den gesamten Film über unangenehm.
       
       Andrémise hat in dieser Konstellation eine ähnliche Funktion, wie sie in
       Pasolinis „Teorema“ dem von Terence Stamp verkörperten mysteriösen Besucher
       zukommt: Sie gibt den erotischen Fremdkörper, der in eine festgefahrene
       Konstellation eindringt, vielfältige verborgene Begehren in Gang setzt und
       dadurch eine Gemeinschaft in ihren Grundfesten erschüttert. Wobei Peck an
       Pasolinis transzendentaler Perspektive nicht interessiert ist. Bei ihm
       treibt Andrémise die Geschehnisse lediglich, als eine Art libidinöser
       Joker, ihrer düsteren Konsequenz entgegen.
       
       ## Mikrokosmos postkolonialer Befindlichkeiten
       
       Das Kalkül des durchaus raffinierten Drehbuchs, in einem Mikrokosmos
       postkolonialer Befindlichkeiten die kleinen, privaten Leidenschaften eines
       Eifersuchtsvierecks mit den großen, politischen Verwerfungen einer
       mindestens nationalen Tragödie kurzzuschließen, geht nicht immer auf. Es
       mag Peck nicht so recht gelingen, seine aufwändige allegorische
       Konstruktion mit der naturalistischen Inszenierung zu versöhnen.
       
       Dass der Film dennoch die Spannung halten kann, liegt vor allem anderen an
       den Darstellern. Alex Descas, der den verstockten Patriarchen gibt, ist
       seit Jahren ein zentrales Gesicht des internationalen Autorenkinos, er hat
       mit Olivier Assayas gedreht, mit Jim Jarmusch, vor allem immer wieder mit
       Claire Denis. In „Mord in Pacot“ lässt er nur langsam die Abgründe
       durchblicken, die hinter der Fassade des weltläufig-abgeklärten
       Intellektuellen lauern. Die eigentliche Entdeckung des Films ist die
       Darstellerin der Hausherrin. Joy Olasunmibo Ogunmaki aka Ayo, eine deutsche
       Soulsängerin mit nigerianischen Wurzeln, hatte noch keine Kinoerfahrung und
       schon dadurch hebt sie sich auf interessante Weise vom Professionalismus
       Descas’ ab. Ogunmaki agiert im Film so, als wäre sie sich jeder ihrer
       Bewegungen voll bewusst und als wolle sie sich deshalb vor den Blicken der
       Welt verbergen. Das verleiht ihr eine eigenartige Verletzlichkeit.
       
       Weniger ambitioniert, aber ästhetisch runder ist ein weiterer Film Pecks,
       der gemeinsam mit „Mord in Pacot“ in den deutschen Kinos anläuft: „Moloch
       Tropical“ erzählt in dynamischer, teilweise fast überdrehter Manier von den
       letzten Amtshandlungen eines fiktionalen haitianischen Präsidenten mit dem
       sprechenden Namen Jean de Dieu Théogène. Berauscht von seiner demokratisch
       erlangten, aber nicht demokratisch ausgeübten Macht und umgeben von
       Speichelleckern, erkennt er nicht, dass er die Kontrolle über das Land
       längst verloren hat, wenn er sie denn je tatsächlich besessen haben sollte.
       
       „Moloch Tropical“ entstand 2009, noch vor dem Erdbeben. Der Film inszeniert
       den Politbetrieb wie eine absurde Ballettaufführung, die Schritt für
       Schritt aus dem Ruder läuft, weil sich niemand mehr so richtig an seine
       Tanzschritte erinnern kann. Bei aller satirischen Schärfe behält das Ganze
       eine Leichtigkeit, die die Katastrophe dem Filmschaffen Pecks seither
       gründlich – und natürlich aus guten Gründen – ausgetrieben hat.
       
       16 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lukas Foerster
       
       ## TAGS
       
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