# taz.de -- Kommentar Menschenrechte in Russland: Ein Recht auf Schauprozesse
       
       > Russland will Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
       > kippen. Rechtsbrüche werden so zur inneren Angelegenheit erklärt.
       
 (IMG) Bild: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gibt den Klägern ein Stück Gerechtigkeit.
       
       Anfang Dezember verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
       (EGMR) Russland zur Zahlung von 260.000 Euro Schadensersatz an die Familien
       von vier Tschetschenen. Zwei von ihnen waren in den Jahren 2000 bis 2004,
       also während des zweiten Tschetschenienkrieges, getötet worden, zwei sind
       bis heute spurlos verschwunden. Die Verantwortlichen für diese Gräueltaten,
       die in der Kaukasusrepublik an der Tagesordnung waren und tausenden
       unschuldigen Menschen das Leben kosteten, wurden nie ermittelt.
       
       Auch wenn Geld den Verlust von Angehörigen nicht aufzuwiegen vermag,
       widerfährt den Klägern doch zumindest ein Stück Gerechtigkeit. Das dürfte
       in Zukunft anders werden: In dieser Woche unterzeichnete Russlands
       Präsident Wladimir Putin ein Gesetz, dem zufolge das Verfassungsgericht
       Urteile des EGMR kippen kann, so es diese für verfassungswidrig befindet.
       Im Klartext bedeutet dies: Menschenrechtsverletzungen können je nach Gusto
       zu einer inneren Angelegenheit erklärt werden.
       
       Nachdrücklicher kann der Kreml gar nicht demonstrieren, was ihm die
       Verpflichtungen wert sind, die er selbst eingegangen ist: nichts. 1996
       wurde Russland Mitglied des Europarats – eine Institution, die sich der
       Durchsetzung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
       verschrieben hat. Mit der Ratifizierung der Europäischen
       Menschenrechtskonvention (EMRK) zwei Jahre später verpflichtete sich
       Moskau, auch die Urteile des EGMR zu befolgen – ein Grundsatz, der auch in
       Artikel 15 der russischen Verfassung festgeschrieben ist.
       
       Damals hegten noch viele Beobachter die Hoffnung, die Mitgliedschaft
       Russlands im Europarat könne den Reformprozess hin zu Demokratie und
       Rechtsstaatlichkeit sowie eine Annäherung an westliche Standards befördern.
       Doch nichts davon ist eingetreten. Im Gegenteil: Die Justiz ist ein
       willfähriger Erfüllungsgehilfe des Kreml – vor allem immer dann, wenn es
       darum geht, kritische Stimmen in Verfahren, die an Schauprozesse zu
       Sowjetzeiten erinnern, zum Schweigen zu bringen.
       
       ## Kein Handlungsbedarf
       
       Mittlerweile stammt ein Großteil der Beschwerden, mit denen sich der EGMR
       befassen muss, aus Russland. Bis Ende 2014 wandten sich fast 130.000 Bürger
       an das Gericht in Straßburg. Von 1.600 angenommen Klagen wurden 1.503
       zugunsten der Kläger entschieden, das heißt eine Verletzung der EMRK
       festgestellt. Viele Urteile betreffen das Schicksal getöteter
       beziehungsweise verschleppter tschetschenischer Zivilisten. Zwar zahlte
       Russland in der Regel die geforderte Entschädigung, sah aber keinen
       Handlungsbedarf, die Täter dingfest zu machen und zur Verantwortung zu
       ziehen.
       
       Nun, nach der jüngsten Volte des Kreml, ist der Europarat mehr denn je
       gefordert. Denn schließlich steht nichts Geringeres auf dem Spiel als seine
       Glaubwürdigkeit. Dass die Herren und Damen in Straßburg auch anders können,
       zeigte sich 2014, als sie nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim
       den russischen Vertretern das Stimmrecht entzogen.
       
       Erste Reaktionen von Thorborn Jagland, Generalsekretär des Europarats,
       klingen eher verhalten. Erst einmal abwarten, wie denn das neue Gesetz
       angewendet wird, scheint die Devise zu sein.
       
       Wird Russland also den ehemaligen Aktionären des zerschlagenen
       Yukos-Konzerns 1,9 Milliarden Euro Entschädigung wegen eines Verstoßes
       gegen das Recht auf ein faires Verfahren zahlen? Ein Urteil, das Experten
       zufolge der Grund dafür ist, dass Putin das neue Gesetz ausgerechnet jetzt
       unterzeichnete.
       
       In Bälde wird sich der EGMR übrigens auch zu der Frage äußern müssen,
       inwieweit die Militäraktionen prorussischer Kämpfer im Osten der Ukraine
       Russland zuzurechnen sind. Sollte er eine Beteiligung Russlands
       konstatieren, dürfte das Votum der Verfassungshüter klar sein:
       verfassungswirdrig!
       
       18 Dec 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Oertel
       
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