# taz.de -- Musik-Oberfläche im Bild: Katalog des schönen Scheiterns
       
       > „One-Hit Wonders” erzählt in strenger Form und bewusst oberflächlich von
       > musikalischen Eintagsfliegen. Ein Anekdoten-Fundus mit Geheimnis.
       
 (IMG) Bild: Hymne an die musikalische Eintagsfliege: One Hit Wonders.
       
       Sie sind die tragischen HeldInnen der Pop-Musik: Die one-hit wonders.
       Tragisch, weil sie mit einer Single Chart-Ruhm und damit verbundene
       Einnahmen kosten durften, um direkt danach wieder in der
       Bedeutungslosigkeit zu versinken – oder zumindest diesem einen Erfolg nie
       wieder auch nur nahe kamen. Doch das Heldenhafte dieser KünstlerInnen ist
       nicht, dass sie ganz oben waren, sondern ganz im Gegenteil, dass sie zu
       kurz im Blick der Öffentlichkeit standen, um sichtbar zu scheitern. Statt
       heute alt und peinlich im Dschungelcamp zu hocken, sind sie einfach nur weg
       – und haben doch Musikgeschichte geschrieben.
       
       Der kürzlich beim Avant-Verlag erschienene Band „Ice Ice Baby – One-Hit
       Wonders 1955–2015” erzählt gleich 80 solcher Geschichten. Oder besser: Er
       deutet sie an. In drei kurzen Absätzen pro KünstlerIn oder Band erzählen
       Carolin Löbbert und Marcus Lucas die Entstehungsgeschichten von heute noch
       bekannten Hits vergessener KünstlerInnen.
       
       In die Tiefe geht das so kurz freilich nicht. Und die strenge Form lässt
       auch keinen Platz für besonders erklärungsbedürftige Ausnahmen. Drei
       Absätze, nicht mehr und nicht weniger. Dazu kleine comichafte
       Illustrationen auf der einen und auf der zweiten Hälfte der Doppelseite ein
       ganzseitiges Porträt. Nach jedem Umblättern folgt sofort die nächste
       musikalische Eintagsfliege in diesem Katalog der Gescheiterten.
       
       ## Pop-Sternchen in Pose
       
       Löbberts Bilder sind scheinbar mit leichter Hand gezeichnet, wirken wie
       reduzierte Plattencover oder Poster. Nur ist es eben keine gestellte
       Porträtfotografie, sondern Löbbert selbst hat die Pop-Sternchen in Pose
       gebracht und ihnen die Haltung zum Sound treffsicher in den Körper
       geschrieben. Es macht Spaß, das anzuschauen und den in Bildern versteckten
       Geschichten zu folgen. Ein Comic ist „Ice Ice Baby” allerdings nicht so
       recht, eher ein großzügig illustriertes Sachbuch.
       
       Löbbert hat in Hamburg, wo sie noch heute lebt und arbeitet, an der
       „University of Applied Science” Illustration und Grafik studiert. Seitdem
       war sie international in Gruppen- und Einzelausstellungen zu sehen. Wenn
       sie nicht gerade an der Szene-Anthologie „Spring“ arbeitet, zeichnet sie
       für Die Zeit, die Süddeutsche und ja – auch schon mal für die taz und le
       monde diplomatique.
       
       Eine der kleinen Illustrationen zeigt die Band „Iron Butterfly” auf Koffern
       sitzend. Und das trifft punktgenau eine der historischen Weichenstellungen
       zwischen Weltruhm und – nun ja – one-hit wonder: Iron Butterfly waren 1969
       als einer der Hauptacts in Woodstock gebucht, doch ihr Flugzeug hob nicht
       ab. Zumindest aber den Song kennt heute jeder: „In A Gadda Da Vida”, was –
       wie in Löbberts Buch zu lesen ist – übrigens ein Verhörer im Suff war.
       Eigentlich handelt der Text vom Garten Eden.
       
       ## Song-Auswahl abseits der Verkaufszahlen
       
       Co-Autor Marcus Lucas ist während der Recherche dazugestoßen. Der
       Musikjournalist und stellvertretende Chef-Redakteur des Lifestyle-Magazins
       GQ hat Löbberts erste Liste überarbeitet und ergänzt. Und diese Auswahl ist
       nicht trivial – die beiden haben nicht etwa allein Verkaufszahlen
       analysiert, sondern durchaus selbstbewusst entschieden, wer erstens einen
       echten Welthit geschrieben und zweitens keinen weiteren vollbracht hat.
       
       So mag gemessen am deutschen Markt zum Beispiel Nena irritieren, deren
       Antikriegs-Schlager „99 Luftballons” von 1983 zwar nur einer unter vielen
       erfolgreichen Songs war, aber eben der einzige, der auch in den USA durch
       die Decke ging. Noch heute ist das Stück hin und wieder mal im
       amerikanischen Kinofilm zu hören, damit das Publikum versteht, dass der
       Film Anfang der 1980er-Jahre spielt.
       
       Auch die Erzähltexte stehen nicht nur auf Deutsch im Buch, sondern auch in
       englischer Fassung – der Muttersprache des Pop. Dieser globale Blick ist
       heute nicht selbstverständlich, wo doch die sich selbstbewusst gebende
       Pop-Nation Deutschland gerade in diesem Jahr erstmals eine durchweg
       deutschsprachige Top Ten feiern konnte. Und während der Markt dann
       letztlich doch geregelt hat, was früher halbgreise Rechtsausleger per Quote
       ins Radio zwingen wollten, erinnern Löbbert und Lucas scheinbar naiv und
       zeitlos daran, was am Pop nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich einmal
       schön, richtig und wichtig war: Sein universeller Geltungsanspruch und die
       Ignoranz gegenüber völkischen Befindlichkeiten.
       
       So ist das chronologisch aufgebaute Buch zugleich eine Zeitreise durch die
       sich rasant ausdifferenzierende Kulturindustrie. Die spannendsten Episoden
       kommen am Anfang, bevor der Pop-Laden auf Linie gebracht war und Karrieren
       von der Castingshow bis zum B-Promi-Trashtalk klar abgesteckt wurden.
       
       ## Geschichten zwischen den Zeilen
       
       1955 war da Joan Weber, die „Let Me Go, Lover!” hochschwanger aufnimmt und,
       so heißt es im Buch, noch „mit Babybauch in einer TV-Show” auftritt. Doch
       Weber verfolgt ihre Karriere nicht weiter und stirbt mit 45 Jahren in einer
       Nervenklinik. Mehr erfahren wir nicht: Nächste Seite, nächstes Drama Die
       eigentliche Geschichte steht dann auch doch eher zwischen den Zeilen. Und
       sie klingt auch: Die 80 Songs lassen sich in einer eigens vom Verlag
       eingerichteten Online-Playlist nachhören.
       
       Und dank Selbstvermarktung im Internet funktionieren auch one-hit wonders
       heute anders. Im Buch steht dafür 2010 die Abiturientin Lena Meyer-Landrut,
       die eigens für das Event „Eurovision Song Contest” aufgebaut wurde und nach
       ihrem überraschenden Sieg bereits wieder verbraucht schien.
       
       Doch es gibt sie immer noch, die kleinen Momente, in denen Pop zu sich
       findet und die Musik plötzlich größer scheint als der Markt und die
       KünstlerInnen. Erfolg von unten, wenn man so will: Da sind die YouTube
       -Stars, die viral wurden, weil sie sich herumgesprochen haben. Der Koreaner
       „PSY” etwa 2012 mit seinem „Gangnam Style”. Oder im gleichen Jahr der
       „Harlem Shake”, den der 23-jährige Harry Bauer Rodrigues in seinem New
       Yorker Apartment aufnahm. Der hat es über enthusiastische Tanzvideos aus
       der ganzen Welt auf 1,2 Milliarden ZuschauerInnen gebracht, während ihn
       sämtliche Sendeanstalten noch hartnäckig ignorierten.
       
       So was muss es ja auch geben, denn Pop wäre nichts ohne neue Gesichter,
       ohne Spontanität und eben ohne diese Ereignisse, die das Immergleiche
       ständig wieder als Spektakel inszenieren. Über das alles lässt sich beim
       Lesen trefflich nachdenken, obwohl es ausdrücklich nicht im Buch steht. Und
       wer darauf keine Lust hat, kann beim Blättern in Löbberts Ahnengalerie der
       Beinahe-Götter aus „Ice Ice Baby” zumindest einen gut aufgestellten
       Anekdoten-Fundus für den nächsten Small Talk in der Oldie-Disco abgreifen.
       
       16 Dec 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jan-Paul Koopmann
       
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