# taz.de -- Filmstart von „Victoria“: Am kürzeren Ende der Friedrichstraße
       
       > In „Victoria“ trifft eine Exil-Spanierin auf vier Berliner Jungs. Der
       > ohne Schnitte gedrehte Film spielt jenseits aller Hauptstadt-Hipness.
       > Heute läuft er an.
       
 (IMG) Bild: Hätten auch gut auf einen Drink im taz-Café vorbeischauen können: Sonne (Frederick Lau) und Victoria (Laia Costa) in einer Filmzene aus „Victoria“.
       
       Starbucks Currency-Exchange Euro-Shop Casino Belle-Arti (“Die Kunst schönen
       Wohnens“) Arbeitsagentur Polizeiabschnitt 53. Ununterbrochen reiht sich ein
       überflüssiges Angebot an das nächste die Friedrichstraße hinunter. Dies
       hier ist die öde, die Kreuzberger Seite der Edelmeile, vom Checkpoint
       Charlie Richtung Süden, Richtung Mehringplatz. Sie ist die Kulisse für
       „Victoria“ von Regisseur Sebastian Schipper, der am heutigen Donnerstag in
       den Kinos anläuft. Ununterbrochen von Schnitten erzählt der Film die
       Geschichte der gleichnamigen Titelheldin aus Spanien, die in einem Club
       vier Berliner Jungs trifft und schließlich mit ihnen eine Bank überfällt.
       Nach mehr als zwei Stunden ist alles wieder vorbei. Es ist ein Berlinfilm
       der besonderen Art.
       
       Nicht nur, weil er nicht Cool Berlin zeigt mit seinen Neuköllner Hipstern
       aus aller Welt, sondern „real Berliners“, wie sich die vier Jungs - mit
       Spitznamen Sonne, Boxer, Blinker und Fuß - Victoria vorstellen. Und weil
       der Film keine Schnitte enthält, da er unablässig, meist schnell, selten
       auch etwas langsamer voranschreitet (und in dieser Dynamik oft an „Lola
       rennt“ erinnert), sind die Kulissen realer als sonst. Wo man sonst als
       Zuschauer im „Tatort“ oder auch bei „Oh Boy“, dem Berlin-Film der letzten
       Dekade, sich über die oft wilde Aneinanderreihung eindrucksvoller Drehorte
       wundert, stimmt bei „Victoria“ in dieser Hinsicht alles.
       
       ## Natürlich auch ein Späti
       
       Von einem „Club“ - der freilich nicht existiert, siehe Grafik - ziehen die
       fünf zum Späti in der Friedrichstraße, hängen auf einem Hausdach um die
       Ecke ab, flirten im Café gegenüber, überfallen schließlich eine Bank im
       angrenzenden Mitte. Der Rest wird nicht verraten. Aber alles spielt sich in
       Echtzeit ab, die Wege mussten beim Dreh so kurz sein, dass es den
       Zuschauern nicht langweilig wird, weil es zu langwierig wird.
       
       Dreimal filmte Regisseur Schipper die ganze Story, immer zwischen 4.30 und
       7 Uhr morgens. Die letzte Fassung schaffte es in den Wettbewerb der
       diesjährigen Berlinale. Dort hatte „Victoria“ Premiere; er bekam
       schließlich einen Silbernen Bären für eine „herausragende künstlerische
       Leistung“.
       
       Der Späti, in dem die vier Jungs sich ein paar Bier klauen, weil der
       Besitzer pennt, liegt gegenüber des Polizeireviers und gehört in
       Wirklichkeit Kamer Senel und seinem Bruder Onur. Sie verkaufen zig Sorten
       Bier - das 0,5-er Schultheiß etwa für 1,50 Euro -, Nippes für Touristen,
       Zeitungen, Süßes. Ein bisschen enttäuscht ist Kamer Senel, als er hört,
       dass der Film nun anläuft: „Der Regisseur wollte mir eigentlich Karten
       vorbeibringen. Hat sich aber nicht mehr gemeldet“, sagt er. Bisher habe er
       nur den Trailer gesehen.
       
       Trotzdem erinnert er sich an die Drehs mit einem Strahlen im breiten
       Gesicht. Kein Wunder, er bekam sogar eine Rolle - nicht als müder
       Bierverkäufer, sondern als zupackender Türsteher im Club. Ein Job, den man
       dem breit gebauten 35-Jährigen problemlos zutraut. Er arbeite nebenbei auch
       als Sicherheitsmann, berichtet Senel; der Kiosk bringe nicht genug ein.
       
       Zwar wären unter den Kunden neben Touristen auch viele Nachbarn, aber die
       Miete habe sich in den vergangenen zwei Jahren verdoppelt. „Das musst du
       mit so was erst mal reinholen“, sagt er und räumt ein paar Bier in die
       Kühlschränke. Immerhin hat er durch den Film keinen Verlust gemacht: Das
       von der Fünfergang geklaute Bier hatte das Team selbst mitgebracht.
       Allerdings, berichtete Regisseur Schipper nach einer Berlinale-Vorstellung,
       hätten sich die Schauspieler zu seinem Erschrecken statt dem extra
       bereitgestellten Alkohlfreien zielstrebig die Flaschen mit richtigen Bier
       gegriffen. Dem Dreh hat es nicht geschadet.
       
       Die Straße runter kommt noch ein Kik-Billigklamottenladen, die Resterampe
       von Motz e. V. und 1970er-Jahre-Sozialbauten, deren Balkone oft nur als
       Halterung für Satellitenschüssen dienen. Dann, wie eine komplett
       fehlplatzierte Kulisse an der Ecke zur Hedemannstraße, lädt das Bio-Bistro
       Wilhlem & Medné zum Mittagstisch. Hier gibt es Ofengemüse der Provence mit
       Röstkartoffeln für 6,80 Euro und Demeteräpfel an der Theke für einen Euro.
       Daneben liegen Flyer für „Victoria“ aus. Im Film kommen sich in dem
       Eckladen Victoria und Sonne - gespielt von Laia Costa und Frederick Lau -
       näher. Victoria, die dort als Bedienung arbeitet, soll das Café aufmachen
       und zeigt Sonne, was sie mal auf dem Klavier gelernt hat.
       
       Das Instrument fehlt nun, überhaupt wirkt das Bio-Bistro heller als im
       Film. „Wir haben damals gerade renoviert“, erinnert sich Inhaberin Ingeborg
       Wilhelm-Medné. Seit 2000 halten sie hier durch, berichtet sie. Damals sei
       die Gegend noch öder gewesen. Inzwischen gebe es immerhin einige Hotels -
       auch durchaus teurere - und sogar Galerien.
       
       Bei den Dreharbeiten waren sie und ihr Mann nicht dabei. „Wir haben der
       Crew den Schlüssel gegeben. Am Ende stand wieder alles auf seinem alten
       Platz.“ Auch Ingeborg Wilhelm-Mednés Augen glänzen, wenn sie sich an die
       Zeit erinnert. Denn sie hat auch schon das Ergebnis gesehen: „Super gut“
       habe ihr der Film gefallen. Sogar zu After-Film-Party auf der Berlinale
       seien sie eingeladen gewesen. Doch die habe erst um halb zwei nachts
       angefangen - zu spät für eine, die stets um 6 Uhr morgens in der Küche
       anfange.
       
       In den kommenden Jahren wird sich die Ecke hier auf halber Strecke zwischen
       Checkpoint und Mehringplatz noch mal deutlich ändern. Rund um die einstige
       Blumengroßmarkthalle entsteht ein Kunst- und Kreativquartier. Direkt
       gegenüber von Wilhelm-Mednés Bistro baut die taz ihr neues Haus, inklusive
       dem bekannt gutem taz-café. Einzug soll im Herbst 2017 sein. „Das ist schon
       okay“, gibt sich Ingeborg Wilhelm-Mednés ganz entspannt angesichts der
       künftigen Konkurrenz. Für ihr Geschäft wäre das sogar gut, und für diese
       Ecke der Stadt auch.
       
       11 Jun 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bert Schulz
       
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