# taz.de -- Haiti nach dem Erdbeben: Der unendliche Albtraum
       
       > Die Überlebenden des Erdbebens campieren neben den Toten, vor
       > eingestürzten Krankenhäusern werden Leichen abgelegt. taz-Reportage aus
       > Haitis zerstörter Hauptstadt.
       
 (IMG) Bild: Überlebende vor einem zerstörten Friedhof in Port-au-Prince.
       
       PORT-AU-PRINCE taz | Das Elend ist unvorstellbar. Vor dem Hospital
       Chirurgical de la Trinité liegen acht Leichen halb auf dem Bürgersteig.
       Passanten steigen über den aufgedunsenen, leblosen Körper einer Frau
       hinweg, der von Fliegen ebenso umschwirrt wird wie die anderen Leichname.
       Junge Männer mit Mullbinden vor den Gesichtern werfen nur einen kurzen
       Blick auf die Szenerie - drei Tage, nachdem vor Port-au-Prince ein Erdbeben
       mit unvorstellbarer Gewalt Funktürme umgeknickt und mehrstöckige, dick
       armierte Betongebäude zum Einsturz gebracht hat, sind Tod und Angst vor
       neuen Beben zu täglichen Begleitern der Menschen in der haitianischen
       Hauptstadt geworden.
       
       Gegenüber der wegen Einsturzgefahr geschlossenen Klinik haben Mitarbeiter
       von Ärzte ohne Grenzen eine Notaufnahme für Schwerverletzte eingerichtet.
       Provisorisch sind Planen gespannt und Verletzten Infusionen gelegt. Das
       leise Wimmern eines Kindes ist zu hören, erwartungsvolle Augen richten sich
       auf den journalistischen Beobachter. Es ist kaum auszuhalten, ein Gefühl
       schierer Ohnmacht, keine Hilfe leisten zu können. Auf der Straße vor der
       Notaufnahme ist das Elend hautnah zu erleben.
       
       Das offene und nur notdürftig umwickelte Bein des Kindes ist
       blutverschmiert und oberhalb des Knies unnatürlich abgeknickt. Daneben
       liegt ein alter Mann mit nacktem Oberkörper und einer klaffenden Kopfwunde.
       Unter einem Tuch liegt offensichtlich eine Leiche, die Arme starr
       ausgestreckt. Insgesamt sechs Verstorbene sind dort abgelegt, und in
       unmittelbarer Nähe leiden die Verletzten. "Was tut ihr für uns?", fragt ein
       Jugendlicher, der eine junge Frau mit Kopfverband im Arm hält.
       
       Die Zwei-Millionen-Metropole Port-au-Prince ist übersät mit Leichen. Und
       über allem hängt der süßliche Geruch von Kadavern - auch ein
       Mund-und-Nasen-Schutz kann den Gestank nicht bannen. Rund 48 Stunden,
       nachdem die Erde mit der Stärke 7,0 gebebt hat, irren tausende von Menschen
       nach wie vor durch die Straßen auf der Suche nach Verwandten, von denen sie
       endlich ein Lebenszeichen zu finden hoffen. "Ich bin nach Hause gekommen,
       und unser Haus war eingestürzt, jetzt suche ich meine Mutter", schreit eine
       Frau hysterisch heraus und läuft wie von Furien getrieben weg.
       
       Nahrungsmittel und Betonstaub mischen sich in den Trümmern einer Straße
       oberhalb von Bel Air. Die in den Wänden eines Bürohauses klaffenden Lücken
       geben den Blick auf einen Schreibtisch und einen umgestürzten Stuhl frei.
       An den Wänden hängen naive Malereien von haitianischen Künstlern. Anne-Rose
       Schön steht auf der Straße vor den Trümmern ihres Büros und kann die
       Katastrophe, die am vergangenen Dienstag um 16.53 Uhr über das Land
       hereingebrochen ist, noch immer nicht fassen. "Ich fühle mich wie in einem
       schlechten Film. Einem Albtraum, aus dem ich aufwachen will, aber nicht
       kann." Die 53-jährige Geschäftsfrau wurde von dem Erdbeben vor einem
       Supermarkt überrascht. "Mein Wagen sprang in die Luft und landete hart
       wieder auf der Fahrbahn. Ich kann es noch immer nicht glauben", sagt die
       Inhaberin einer Werbeagentur.
       
       Der Champs de Mars, der große Platz vor dem "haitianischen Kapitol", ist
       überfüllt von Obdachlosen. Familien haben provisorisch Planen gespannt, um
       sich vor der sengenden Sonne zu schützen. Eine Gruppe von Gehörlosen hat
       sich direkt vor dem weißen, dreiflügeligen Gebäude versammelt und
       diskutiert gestenreich. "Keiner kommt und hilft uns", machen sie in
       Gebärdensprache deutlich. Niemand achtet auf den weiß gestrichenen
       Lastwagen mit den schwarzen Lettern "UN" und die darauf sitzenden
       Blauhelmsoldaten, die ihre Maschinenpistolen schussbereit halten.
       
       Eine Frau kehrt mit einem Strohbesen in der Straßenrinne den Schmutz und
       Plastiktüten zusammen - Ordnungsversuche in einer Welt, in der das Chaos
       regiert. Auf dem Betonboden sitzt ein Mann und pult Guandule, eine
       Erbsstrauchfrucht, aus den Schoten, und über einem offenen Feuer brodelt
       eine ölige Soße mit Tomatenmark. Das wenige Essen, das die vielleicht
       dreitausend Menschen, die sich vor dem Regierungspalast niedergelassen
       haben, überhaupt zur Verfügung haben, wird geteilt. "Wenn die Menschen
       nicht so solidarisch wären und sich nicht gegenseitig helfen würden, wäre
       die Katastrophe noch viel schlimmer", kommentiert einer der Obdachlosen.
       "Niemand hat uns Hilfe geschickt, wir müssen uns selbst helfen."
       
       Staatliche Autorität fehlt komplett. "Bis jetzt hat sich keiner bei uns
       blicken lassen!", schimpft auch Petit-Hommes Herold, und seine Freunde Jean
       Phillippe und Jean Gregory, die in der Nähe des Präsidentenpalasts wohnen,
       stimmen in die Klage ein. "Wir sind fertig. Wir können nicht schlafen, weil
       uns die Gedanken an unsere verstorbenen Verwandten im Kopf herumschwirren."
       Dimitri Seidé ist auf den Marsplatz gekommen in der Hoffnung, wenigstens
       hier Hilfe zu finden. Der Bruder ist tot, Mutter und Vater sind verletzt.
       "In der Nähe meiner Wohnung in Carrefour sind zwei Schulen
       zusammengestürzt, unter den Trümmern liegen alle Schüler begraben."
       
       Sein Freund hat seit dem Vortag nichts mehr gegessen. Und auch diese
       Mahlzeit war spärlich, das bisschen Reis mit ein paar gekochten Bohnen und
       Fettsoße konnte seinen Magen nicht füllen. Und für das Essen, das von einem
       Pick-up für umgerechnet 20 Eurocent verkauft wird, fehlt ihm das Geld, sagt
       er.
       
       Vor dem Präsidentenpalais campiert Marie Claude bereits seit dem frühen
       Abend des Dienstags, als binnen weniger Sekunden ihr Haus in sich
       zusammenbrach. "Ich habe vergeblich gehofft, dass es hier was zu essen
       gibt. Daneben putzt eine Frau ihre Zähne, eine andere ist dabei, ihrer
       kleinen Tochter Zöpfe zu flechten. Die Mittelkuppel und die beiden
       Seitenkuppeln des Palais sind inzwischen noch weiter nach unten gerutscht.
       Den ganzen Tag suchten in dem eingestürzten Gebäude Spezialisten der
       spanischen Feuerwehr mit Spürhunden nach Überlebenden.
       
       Aber der Frust der Suchteams ist groß. Als sie nach einer Odyssee über die
       Dominikanische Republik endlich in Haiti eingetroffen waren, standen die
       Hundeführerinnen und -führer selbst hilflos unter den Landebrücken der
       Flugzeugparkposition. Trotz der stundenlangen Reise gab es für ihre
       empfindlichen Tiere noch nicht einmal Wasser. "Die ersten Stunden bei der
       Verschüttetensuche sind entscheidend", klagt Feuerwehrmann Javier Marine
       schwitzend unter seinem Schutzhelm, "und wir stehen hier sinnlos rum." Als
       die Dunkelheit über das "Land der Berge", wie die Taino-Ureinwohner die
       zweitgrößte Karibikinseln nannten, hereinbrach, warteten die Helfer mit
       ihren Hunden noch immer auf ihren Einsatz.
       
       Die Fahrt über die Route Canapé Vert nach Pétionville führt nur noch an
       eingestürzten Häusern vorbei, aus denen Menschen noch letzte Reste ihrer
       Habe zu retten versuchen. Mehr als 100 Meter ist der Berg abgerutscht und
       hat die Betonsteinbauten teilweise in die Tiefe gerissen. Jede verfügbare
       Freifläche dient inzwischen Obdachlosen dazu, sich im wahrsten Sinne des
       Wortes häuslich einzurichten. Hilfsorganisationen haben Zelte verteilt, in
       denen Familien untergekommen sind. "Ich habe Angst", lautet fast unisono
       die Antwort auf die Frage, warum sie im Freien campieren. Die
       Ausfallstraßen in Richtung der haitianisch-dominikanischen Grenze und in
       den Norden des Landes sind verstopft mit Pick-ups, mit denen Menschen aus
       der Katastrophenzone zu gelangen versuchen.
       
       Am eingestürzten Kinderkrankenhaus Saint Vincent in Pétionville suchen
       Freiwillige seit zwei Tagen mit Schippen und einem Vorschlaghammer nach der
       letzten Vermissten. "Wir haben unmittelbar nach dem Einsturz mit der Suche
       begonnen", sagt der Ingenieur Patrick Figaro. Der 43-Jährige ist der
       Bauleiter eines daneben liegenden Großhotels. Einen Mann und eine Frau
       konnten Figaro und seine Bauhelfer retten, eine weitere Frau konnte nur tot
       geborgen werden. Jetzt weist impertinenter Leichengeruch den Weg zu der
       letzten Vermissten, die sich zum Unglückszeitpunkt in dem Gebäude
       aufgehalten hatte.
       
       Inzwischen landen Transportflugzeuge im 15-Minuten-Abstand auf der Rollbahn
       des Flughafens im Norden von Port-au-Prince. Suchtrupps haben sich auf dem
       Vorplatz ausgebreitet. US-amerikanische Soldaten im Kampfanzug marschieren
       nach dem Aussteigen im Gänsemarsch zum Appell. Internationale
       Nachrichtenagenturen und Fernsehanstalten haben Satellitenschüsseln zur
       Direktübertragung und improvisierte Fernsehstudios aufgebaut. Langsam
       kommen Nachrichten aus anderen Gebieten der südlichen Regionen, in denen
       das Ausmaß der Zerstörung genau so groß, wenn nicht noch größer ist.
       
       Während am Abend erneut die Erde leicht bebt, stimmen Evangelikale in einem
       Vorort von Pétionville religiöse Choräle an, um sich Mut zu machen. Ein
       Helfer sitzt erschöpft in einer Ecke und löffelt mit einem Cracker eine
       Thunfischdose aus. "Das Schlimmste, was jetzt noch passieren könnte, ist
       Regen. Dann wäre die Katastrophe total."
       
       16 Jan 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hans-Ulrich Dillmann
       
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