# taz.de -- Spatenstich für Stuttgart 21: Immer schön sauber bleiben
       
       > Heute beginnt der Bau des neuen unterirdischen Hauptbahnhofs der
       > Schwabenmetropole. Dem Mammutprojekt muss ein großer Teil der Subkultur
       > weichen. Ein Nachruf.
       
 (IMG) Bild: Sieht erstmal gut aus. Doch für die neue Nüchternheit müssen Teile der Stadt für immer weichen, die ihr ein wenig Charakter gaben.
       
       STUTTGART taz | Das Herz Europas ist eine Einkaufsstraße. Zara, Pimkie,
       H&M, Sport-Scheck, Mango, Benetton, MediaMarkt, Karstadt, Kaufhof, C&A, S.
       Oliver, nochmal H&M, nochmal Zara - das Herz Europas ist so groß, dass
       mehrere Filialen einzelner Ketten hineinpassen. An normalen Tagen schleppen
       dort Horden von Menschen an ihren frisch vollgeshoppten Einkaufstaschen
       schwerer als die Sklaven im alten Ägypten an den Steinen zum Pyramidenbau.
       Die Rede ist von der schnurgeraden Königstraße.
       
       Am Dienstag fangen sie in der Stadt an, einen neuen Hauptbahnhof zu bauen.
       Der wird aus schwäbischer Sicht eine Art modernes Weltwunder, und weil
       Stuttgart außerdem ungefähr in der Mitte des Kontinents liegt, kam
       irgendein städtischer Marketing-Fuzzi auf die autistische Idee, der Stadt
       den Titel "Das neue Herz Europas" zu verleihen. Das Hirn Europas läge
       demnach ungefähr in Bielefeld.
       
       Für schlappe 4,03 Milliarden Euro wird unter dem Titel "Stuttgart 21" der
       gesamte Bahnhof samt Gleisanlagen in 32 Kilometer lange Tunnel unter die
       Erde gelegt. Zusammen mit der geplanten 2 Milliarden Euro teuren
       ICE-Neubaustrecke durch die Schwäbische Alb nach Ulm handelt es sich um das
       größte Infrastrukturprojekt Europas, sagt zumindest Bahnchef Grube.
       
       Nun haben der Bahnhof und Peter Handke etwas miteinander zu tun. Als der
       Schriftsteller 1973 in der Stadt weilte, schimpfte er: "Von allen deutschen
       Städten, die ich kenne, habe ich mich nur in Stuttgart bedingungslos fehl
       am Platz gefühlt." Man hört das so oder so ähnlich immer wieder von
       Besuchern. Handke war besonders von den Menschen irritiert: dass in
       Stuttgart Leute in Trainingsanzügen auf Trimm-dich-Pfaden genau vor dem
       Kniebeugen-Piktogramm innehalten und wie dort empfohlen genau zehn
       Kniebeugen machen.
       
       Was er sonst konstatierte, hat sich bis heute gehalten: erstickendes
       Villenleben an den Hügeln über dem engen Talkessel und unten von breiten
       Straßen durchtriebene Ordnung sowie ratternde Straßenbahnen. Was komplett
       fehlt, ist der Charme wilden Stadtwirrwars, kaum spontan in vergessenen
       Ecken wuchernde Natur, nur sortierte Kleingärten und Naherholungspfade.
       Selbst den einzigen Bach im Tal, den Nesenbach, haben sie schon vor
       Jahrhunderten eingemauert und unter die Erde verbannt. Scheint in den Genen
       zu liegen.
       
       Auch wenn Handke nie was über den neuen Bahnhof sagte: "Stuttgart 21"
       schreibt sein Unbehagen der Stadt gegenüber perfekt fort. Da werden
       riesige, momentan noch mit Gleisen überzogene Flächen mitten in der Stadt
       frei, die bisher vom Neckar aus die Stadt teilen, bis sie jäh am
       Kopfbahnhof enden. Eigentlich grandios. Und was wird daraus: nebst einer
       Vergrößerung des Schlossparks noch mehr Galerien und Kaufhäuser, Büros und
       Reißbrettwohnflächen, um die Kohle aus dem Bausparvertrag zu investieren.
       Hurra.
       
       Dagegen wird ein gutes Stück Wirrwarr der Stadt abgerissen: die alte
       Bundesbahndirektion mit spätbarocker Fassade, heute ein Refugium für
       Künstler, Schriftsteller, Musiker oder Modedesigner und mit einem Club, dem
       "Rocker 33". Viel schlimmer noch: Die legendäre "Röhre" wird weggebuddelt,
       ein Club in einem nie fertig gebauten Straßentunnel. Auf der anderen Seite
       der "Landespavillon" mit seinen wilden Konzerten - auch bald weg. Und dann
       gibt es da eine Kolonie von Künstlern, die vor zehn Jahren ein paar vor
       sich hin rostende Eisenbahnwaggons auf dem stillgelegten Teil des alten
       Nordbahnhofs renoviert haben. Wo sie ab September wohnen sollen, wissen sie
       noch nicht.
       
       Soll man etwa wegen ein paar Lebenskünstlern ein Milliardenprojekt
       abblasen? Das wäre ein verdammt cooles Ende für "Stuttgart 21", dessen
       absehbar explodierende Kosten in Zukunft vom Rest des Republik bezahlt
       werden müssen. Was wütend macht, ist diese arrogante, gegen Kritik
       resistente Selbstverständlichkeit, mit der in der Stadt seit Jahren die
       verruchtesten, freiesten Orte für Großkinos und Konsumtempel platt gemacht
       werden. Stuttgart war in den 90ern Hip-Hop-Stadt: Die Fantastischen Vier
       kommen von hier, Freundeskreis auch, es gab eine lebhafte Graffiti- und
       Breakdancer-Szene.
       
       Als sich 1993 ein Manager von Südmilch wegen krummer Geschäfte nach
       Paraguay absetze, verwandelte sich eine der ehemaligen Fabriken in eine
       Szene aus Clubs wie das M1 oder das Zapata, die in ganz Deutschland bekannt
       wurden. Halblegale Partys mit Skaterampen auf der Tanzfläche. An der Stelle
       steht jetzt ein Multiplexkino mit dem Flair eines Flughafenterminals. Ein
       paar Jungs in Schlabberhosen haben der Stadt damals mehr Image verpasst,
       als das Milliardenloch im Schlossgarten es je tun wird.
       
       Jean-Christoph Ritter, als "Schowi" Rapper bei "Massive Töne", hat die Zeit
       miterlebt. "Keine Ahnung, wer schuld ist. Stuttgart war eben seit je eine
       entwickelte Stadt, und wenn es irgendwo Brachen gibt, kommt sofort was
       rein, das der wirtschaftlichen Landschaft hilft", sagt er. So bleibt
       Stuttgart die sauberste und wohlorganisierteste Stadt der Welt, mit dem
       unwiderstehlichen Drang, seine besten Seiten zu zerstören.
       
       Abends auf der Königstraße, nach Ladenschluss, kaum auszuhalten: Junge
       Menschen tragen den Inhalt ihrer Einkaufstaschen am Körper spazieren, sie
       riechen nach CK One, unterhalten sich über Handyverträge, Fitnessstudios
       und Solarien. Da! Ein Hundehaufen auf dem Gehweg - endlich ein klein wenig
       Anarchie. Ein schüchternes Graffito auf einem Umspannungskasten:
       möglicherweise eine aufkeimende Jugendrevolution. Ein rülpsender Punk vorm
       Hauptbahnhof, man möchte ihn spontan herzen: Rebellion gegen die Etikette!
       Und dann hat doch Papi die teure Nietenjacke bezahlt. Also gut, auf dem
       Dornhaldenfriedhof liegen Gudrun Ensslin und Andreas Baader beerdigt. Das
       rockt irgendwie. Wenn sie es nicht so furchtbar übertrieben hätten.
       
       Dem Oberbürgermeister, Wolfgang Schuster, kann man kaum einen Vorwurf wegen
       der Entwicklung der Stadt machen. Viele schreiben ihm den Charme einer
       Butterbrezel zu - und man muss sagen: nicht völlig zu Unrecht. Man kann ihn
       zum Beispiel fragen, was er von direkter Demokratie hält, schließlich
       wollen seine Bürger gern über das Riesenloch "Stuttgart 21" abstimmen. Dann
       kommen ungefähr Sätze wie, Zitat erfunden, aber an wahre Begebenheiten
       angelehnt: "Nach Paragraf 21 der Gemeindeordnung für das Land
       Baden-Württemberg darf ein Bürgerbegehren nur Angelegenheiten zum
       Gegenstand haben, die …" und so weiter.
       
       Zwar ist die Kulturförderung Stuttgarts eigentlich vorzüglich, ebenso hat
       die Stadt ihre 40 Prozent Migranten in der ersten oder zweiten Generation
       integriert wie kaum eine andere Kommune in Deutschland. Aber vom Wert von
       Subkultur und Freiräumen jenseits des Kulturetats versteht Schuster so viel
       wie Papst Benedikt vom Kamasutra.
       
       Deshalb, liebe Berliner, wird der Zustrom schwäbischer
       Lebensgefühlflüchtlinge nicht abreißen. Folgendes Angebot: Im Gegenzug
       dafür, dass ihr uns Asyl gewährt, demonstrieren wir für den Erhalt der Köpi
       und des Spreeufers. Wir schwören bei der heiligen Maultasche, dass wir die
       Mieten in Prenzlberg nicht mehr in die Höhe treiben werden.
       
       Und wir fordern ein klein wenig Toleranz. Bitte. Es ist erniedrigend, wie
       man als Schwabe in der gesamten Republik seine Wurzeln verleugnen muss.
       Einen Logopäden aufsuchen und Weinkorken in den Mund stecken, um nicht
       anhand der Aussprache enttarnt zu werden. Sonst drohen Ausgrenzung,
       Verachtung, Gelächter. Man denke nur an den armen Horst Köhler. Dessen
       Amtsurvater Theodor Heuss hat Stuttgart mal mit Florenz verglichen. Aber
       das war vor dem Krieg.
       
       2 Feb 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ingo Arzt
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Prozess um Stuttgart 21: Deutsche Bahn darf abreißen
       
       Das Milliardenprojekt hat eine weitere Hürde genommen. Der jetzige
       Stuttgarter Hauptbahnhof darf zum Teil abgerissen werden. Die Klage des
       Architekten-Enkels war ohne Erfolg.
       
 (DIR) Winfried Hermann über "Stuttgart 21": "Ein unterirdischer Engpass"
       
       Grünen-Politiker Hermann bemängelt Fehlinvestitionen der Bahn wie das
       Projekt "Stuttgart 21". Dieses ziehe Geld von wichtigeren Bauvorhaben ab.
       Der Güterverkehr wird sträflich vernachlässigt.
       
 (DIR) Stuttgart 21: Bahnfahrer in den Untergrund
       
       Die Bahn hat das umstrittene Projekt "Stuttgart 21" abgesegnet – trotz
       Mehrkosten von 1 Milliarde Euro. Schon im Februar soll der Bau des
       Tunnelbahnhofs beginnen.
       
 (DIR) Kommentar Stuttgart 21: Schön gerechnet
       
       Die finanziellen Ausmaße des Stuttgarter Bahnhofprojekts sind gigantisch
       und eigentlich unbezahlbar. Doch die Politiker klammern sich an die Pläne,
       rechnen sie schön und stimmen zu.
       
 (DIR) Stuttgart 21: Kampf um den Megabahnhof
       
       Die Stadt ist gespalten, die Kontrahenten bekriegen sich, die Bahn AG
       rechnet noch. Nächste Woche soll der Baustart für Deutschlands größtes
       Verkehrsprojekt bekannt gegeben werden.