# taz.de -- Kaum Widerstand gegen Sparkurs: Großbritanniens Arme saufen ab
       
       > Anders als die Franzosen wehren sich die Briten bislang kaum gegen den
       > brutalen Sparkurs ihrer Regierung. Dabei räumt diese ein, dass die
       > ärmsten 10 Prozent am meisten verlieren.
       
 (IMG) Bild: Eher niedlich: Proteste gegen den Sparkurs in Großbritannien.
       
       "Wir sitzen alle in einem Boot, und jeder muss seinen Beitrag leisten",
       sagte der britische Schatzkanzler George Osborne am Dienstag bei der
       Vorstellung seines brutalen Sparpakets im Londoner Unterhaus. Das Boot
       gleicht allerdings der "Titanic": Während die Reichen auf dem Oberdeck in
       der ersten Klasse mit dem Schrecken davonkommen, saufen die Armen im
       Unterdeck der dritten Klasse ab.
       
       Osborne hat in seiner Rede 24-mal das Wort "fair" erwähnt. Seine Sparkur
       ist alles andere als fair. Er plündert 7 Milliarden Pfund aus dem
       Sozialhilfetopf, nachdem er ihn in seinem Haushaltsplan im Frühsommer
       bereits um 11 Milliarden gekürzt hat. Das Budget für den sozialen
       Wohnungsbau wird in den nächsten vier Jahren auf weniger als die Hälfte
       eingedampft. Selbst nach seinen eigenen Berechnungen verlieren die ärmsten
       10 Prozent der Bevölkerung am meisten.
       
       Doch die Briten wahren die Contenance und schauen verdutzt nach Frankreich,
       wo weit weniger drastische Einschnitte Massenproteste ausgelöst haben. Die
       britischen Proteste waren eher niedlich, Osborne und seine Kollegen in der
       Koalitionsregierung aus Tories und liberalen Demokraten dürften sich ins
       Fäustchen lachen. 500 Menschen zogen vor die Downing Street, den Amtssitz
       von Osborne und Premierminister David Cameron. 3.000 Demonstranten
       marschierten durch die Londoner Innenstadt. Manche trugen Osborne-Masken,
       andere Plakate mit seinem Foto und dem Wort "Wichser". Vince Cable, der
       liberaldemokratische Wirtschaftsminister, wurde auf Plakaten entweder als
       Nazi oder als Teufel beschimpft. Zwölf Menschen brachen ins
       Wirtschaftsministerium ein. Neun verließen das Gebäude freiwillig, die
       restlichen drei wurden verhaftet. Das wars bisher.
       
       Osborne nutzt die Krise und das Haushaltsdefizit für den Rückzug des
       Staates und die Demontage des Wohlfahrtssystems - ein Prozess, den Margaret
       Thatcher vor dreißig Jahren begonnen hat. Er hat seinen Coup gut
       vorbereitet und die Bevölkerung dafür weichgeklopft: Seit Monaten wurden
       Geschichten lanciert, in denen Sozialhilfeempfänger als faule Parasiten
       erschienen, die auf Kosten der Gemeinschaft ein sorgenfreies Leben im Luxus
       führen. Die Mehrheit stimmte dieser Einschätzung zu. Osborne hat den
       öffentlichen Dienst zum Feind Nummer eins erklärt, obwohl dessen Einkommen
       weit hinter denen im privaten Sektor hinterherhinkt. Die Mehrheit der
       Bevölkerung stimmte abermals zu.
       
       Zwei Drittel der Briten halten die drastischen Kürzungen für notwendig. Sie
       sind von den Sparmaßnahmen ja auch weniger betroffen. Osbornes Kalkül ist
       zynisch: Aufgrund des ungerechten britischen Wahlsystems zieht der Gewinner
       eines Wahlkreises ins Unterhaus ein, während die Stimmen der Verlierer
       unter den Tisch fallen. Also konzentriert sich der Schatzkanzler auf die
       Tory-Kernwähler, die relativ ungeschoren davonkommen. Um die Arbeitslosen
       und Arbeiter, die ohnehin Labour wählen, schert er sich nicht. Und in fünf
       Jahren, wenn die nächsten Wahlen anstehen, ist der Haushalt vielleicht so
       weit konsolidiert, dass rechtzeitig ein paar Wahlkampfgeschenke in Form von
       Steuersenkungen verteilt werden können.
       
       Es könnte sein, dass diese Rechnung nicht aufgeht. Wenn das ganze Ausmaß
       der Kürzungen im nächsten Jahr sichtbar wird, wenn die Zwangsräumungen
       beginnen, weil die Menschen Mieten oder Hypotheken nicht mehr zahlen
       können, wenn die Wartezeiten in den Krankenhäusern immer länger werden,
       weil keine Betten frei sind, wenn Büchereien und Freizeiteinrichtungen
       schließen müssen, weil die Gemeinden kein Geld mehr haben, greifen die
       Briten vielleicht nicht mehr gelassen nach ihrem Lieblingsgetränk, einem
       warmen Bier, sondern gehen doch noch auf die Straße.
       
       21 Oct 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ralf Sotscheck
       
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