# taz.de -- Castor und Protestkultur: Die Rebellion der Bürger
       
       > Etwa 35.000 Menschen demonstrieren am Wochenende im Wendland gegen den
       > einfahrenden Castor-Transport. Etabliert sich die neue Protestbewegung?
       
 (IMG) Bild: Demonstranten blockieren am Sonntag in der Nähe von Harlingen als Protest gegen den Castor-Transport Eisenbahngleise.
       
       WENDLAND taz | Wenn die meisten der angereisten Protestbürger schon wieder
       zuhause sitzen, fängt die Arbeit für die Initiativen und für die Wendländer
       erst richtig an. Einen Termin für Montag ausmachen? Es gibt nur einen
       Termin, und den muss keiner in den Kalender eintragen: Protest gegen den
       einfahrenden Castor-Transport mit dem stark strahlenden Atommüll auf dem
       letzten Abschnitt ins Zwischenlager Gorleben. Zu dem Zeitpunkt haben dann
       auch die vormals kommunikativen Polizisten ihr Visier heruntergeklappt.
       Kein einheimischer Protestierender, heißt es, der in 33 Jahren noch nicht
       verprügelt worden wäre.
       
       Der Protest gegen ein Endlager für schwer radioaktiven Atommüll im
       Salzstock von Gorleben sei inzwischen in der dritten Generation, wird gern
       gesagt. In manchen Familien ist es bereits die vierte Generation, die am
       Freitag früh bei einer Schülerdemo durch Lüchow ihr Demonstrationsrecht vor
       die Schulpflicht stellt. Ein jugendlicher Sprecher kündigt auf dem
       Marktplatz hartnäckigen Widerstand an, bis die Politik erkenne, "dass man
       Geld nicht essen kann". Auch diese Indianer-Weisheit ist inzwischen in der
       vierten Generation im Repertoire deutscher Umweltaktivisten.
       
       Das Castor-Wochenende mit seinen vielen "traditionellen" Veranstaltungen
       ist halt längst auch ein Ritual. Trotz 18.000 Polizisten hat es sehr schöne
       Momente und ist an der Oberfläche einer Kirmes nicht unähnlich - nur dass
       die Bierzelte fehlen und die Marketender auf der zentralen
       Protestveranstaltung Ökostrom, die grüne Partei und Bio-Apfelsaft verkaufen
       wollen. Veganes Schmalzbrot gibts umsonst. Schmeckt gut.
       
       Genau in dem Moment, da die Kundgebung am Samstagnachmittag in Splietau
       nahe Dannenberg beginnt, knallt die Sonne durch. Es korrespondiert gut mit
       den tausenden gelben Anti-Atom-Fahnen und einer Schweigeminute für den im
       Oktober verstorbenen Hermann Scheer, den Propheten der solaren Revolution.
       Das Meiste, was von der Bühne hallt, ist Anti-Atom-Peptalk. Manches bleibt
       hängen.
       
       Kerstin Rudek, Vorsitzende der Bürgerinitiative Umwelt Lüchow-Dannenberg,
       verkündet den kompletten Bruch zwischen Politik und Gesellschaft: "Wir
       haben den Glauben an die Regierungen verloren", sagt sie. Plural. Das geht
       nicht nur gegen Angela Merkel und die aktuelle Regierungskoalition aus
       Union und FDP, wie Grüne und SPD diesen Protest gern deuten wollen. Da ist
       auch rot-grüne Endlagerpolitik nicht vergessen und es wird, wie im
       Stuttgarter Konflikt, eine andere politische Kultur und eine neue Form von
       Bürgerbeteiligung bei zukunftsentscheidenden Großprojekten eingeklagt.
       
       Dass Protestbürger aus Stuttgart gekommen sind, wird auf der Bühne
       gefeiert. Es ist wichtig, um eine Nähe der beiden großen Bewegungen dieser
       Tage zu belegen. In Stuttgart sitzt man inzwischen an einem
       Schlichtungstisch, für Gorleben ist so ein Anfang eines politischen
       Prozesses nicht in Sicht. Oder doch? "Stuttgart steht dafür, dass
       zurückliegende unverantwortliche Entscheidungen doch noch überprüfbar
       sind", sagt Rebecca Harms, "das hat man hier die ganze Zeit gewollt."
       Stuttgart zeige, dass etwas gehe.
       
       Harms ist Wendländerin und Fraktionsvorsitzende der Grünen im EU-Parlament.
       Sie war von Anfang an im Widerstand und hat vor vielen Jahren das getan,
       wonach in diesen Tagen gerufen wird: bürgerliches Engagement erweitern und
       in die Politik gehen, um dort für die Sache zu kämpfen. Was sie, obwohl
       "Ikone" (Bild) der Bewegung, für eine Demo-Rede disqualifiziert. Politiker
       dürfen bei der Großdemo nicht reden. Begründung: Sie redeten sonst schon
       genug.
       
       Harms sieht zwar eine "neue Bereitschaft zum Konflikt mit der
       Bundesregierung" als Grundlage des wachsenden Atomprotestes; sie ist aber
       entgegen der derzeitigen Polarisierung der Ansicht, dass das Atomproblem
       nur im großen Konsens zu lösen sei, nicht durch Parteienstreit. Und auch
       "nicht mit einem schlichten Nein". Die Alternative müsse eine klare Kontur
       haben. Die große Alternative, die Energiewende, mobilisiert indes nicht
       annähernd so viele Menschen wie eine Laufzeitverlängerung der
       Atomkraftwerke. Tja, sagt Harms, die Frage sei, was Bürger in Bewegung
       setze. Das Wichtigste sei, dass der Umbau beginne.
       
       Während tausende Polizeiwannen am Freitagnacht leere Straßen bewachen,
       sitzt in einem kleinen Weiler namens Kukate ein Kreis namens Grüne
       Werkstatt Wendland zusammen und diskutiert einen Umbau. Genauer gesagt: ein
       Kultur- und Kreativwirtschaftscluster für die Zukunft des 50.000 Einwohner
       kleinen Landkreises. Die These lautet: Nachhaltiges Design muss
       unternehmerisch integriert werden, um künftig nicht von mehr und mehr
       Märkten ausgeschlossen zu sein. Man solle beim Wort Wendland nicht nur an
       Trecker denken, sagt ein Teilnehmer. Oder an eine strukturschwache und
       verkehrsinfrastrukturell schwach angebundene Region. Oder an eine
       Künstlerenklave. Und eben auch nicht nur an den Endlager-Widerstand.
       Sondern an eine begehrenswerte Gegend, in der Zukunft klug, nachhaltig und
       schön gestaltet wird.
       
       Samstags sieht man einige der Kreativwirtschaftler wieder in der Menge, die
       die Veranstalter mit 50.000 angeben. Demnach "die größte Demonstration der
       Anti-AKW-Bewegung im Wendland". Sehr viel mehr als vor zwei Jahren. Die
       Zufahrtstraßen sollen zu sein, wie einst jene in Woodstock. Sind jene
       zurück, die vor vielen Jahren demonstrierten, weil Merkel den
       gesellschaftlichen Frieden gebrochen hat? Sind vormals Unpolitische da, die
       früher nie die Konfrontation mit dem Staat gesucht haben? Gehört ziviler
       Ungehorsam im 21. Jahrhundert zum selbstverständlichen Kanon der
       bürgerlichen Pflichten, Sitzblockaden zur Pflicht eines grünen
       Parteimitglieds, ist Schottern das neue große Bürgerrevolteding oder eine
       schlimme Chaoten-Straftat?
       
       Der Kampf um Deutung und Deutungshoheit des Protest-Wochenendes zwischen
       Regierung, Opposition und außerparlamentarischer Opposition wird ähnlich
       verbissen geführt wie der zwischen den Premiumprotestierenden und der
       Polizei.
       
       Als Reporter vor Ort kann man so viel sagen: Es sind sehr viele Menschen
       da, und es werden im Lauf der Kundgebung immer mehr. Stichproben ergeben:
       Es gibt Leute, die sagen, dass sie zum ersten Mal demonstrieren. Es gibt
       graue Veteranen mit "Brokdorf"-Pedigree, die jetzt wieder demonstrieren.
       Die Laufzeitverlängerung der Merkel-Regierung habe in ihnen "Dauerwut"
       ausgelöst. Nun planen sie "Dauerprotest".
       
       Auch der Hamburger Musiker und Schriftsteller Rocko Schamoni ist zum ersten
       Mal dabei. Er habe das Gefühl gehabt, angesichts des Gemauschels zwischen
       Regierung und Energiekonzernen sei es notwendig, Präsenz zu zeigen. Der
       erfolgreiche Künstlerprotest gegen die Gentrifizierung des Hamburger
       Gängeviertels habe gezeigt, "dass man Gelände zurückgewinnen kann, wenn man
       sich massiv zur Wehr setzt".
       
       Zwar versuchen praktisch alle Anti-Atom-Kommunikationstrategen die aktuelle
       Laufzeitverlängerung und die örtliche Endlager-Drohung als eine Sache zu
       sehen, die allen Protestierenden gleich wichtig sei; doch im Grunde sind es
       wohl selbst bei den Angereisten parallel laufende Proteste: gegen
       Laufzeitverlängerung. Gegen das, was als Arroganz und Ausverkauf der
       herrschenden politischen Klasse empfunden wird. Gegen die Regierung - von
       Bürgern, die sich ein Jahrzehnt damit schwertaten, weil andere Parteien
       Regierung waren. Gegen ein Endlager in Gorleben.
       
       Für Leute, die am Abend oder nach ein paar Tagen wieder nach Hause fahren,
       verblasst das seltsame Gefühl womöglich wieder, das man hat, wenn man an
       den Anlagen südlich des kleinen Ortes vorbeifährt. Für die Protestbürger im
       Wendland ist es aber der permanente Antrieb allen Widerstands, dass
       Gorleben als Endlagerstandort aufgegeben werden muss. Denn auch zu
       rot-grünen Zeiten rollte der Castor und der "gesellschaftliche
       Großkonflikt" war ja nie wirklich erledigt. Manche Protestierende gruselt
       die Vorstellung, der frühere grüne Umweltminister Jürgen Trittin könne sich
       neben sie in eine Sitzblockade einreihen. Gewissensfrage: Müsste man ihn
       dann wegtragen?
       
       Es gibt übrigens auch Wendländer Schülerinnen, die während der Lüchower
       Demo in der Kneipe sitzen und Karten spielen. Demo? Brummelbrummel. Sie
       sind alle blondiert, aber das kann Zufall sein. Es gibt einen Dissidenten
       in Dannenberg, der sich furchtbar aufregt über den Bürgerprotest. Gegen die
       gesellschaftliche Mehrheit im Café in der Langen Straße schreit er herum,
       dass der Protest nichts bringe, nie was gebracht habe, nur Milliarden koste
       und ihn persönlich 600 Euro. Die Verkäuferin sagt vorsichtig: "Was kostet
       heute kein Geld?" Und der Protestkritiker: "Aber es kostet mein Geld."
       
       Und dann gibt es noch etwas, was man die Veränderung der Bewertung des
       Polizeieinsatzes im öffentlichen Diskurs nennen könnte. Wenn die Polizei im
       Wendland die Wasserwerfer rausgeholt und bei minus 20 Grad auf höchsten
       Druck geschaltet hat, dann kratzte das an anderen Orten viele überhaupt
       nicht. Gorleben war weit weg. Als nun in Stuttgart nach einem
       Wasserwerfer-Einsatz schnell auch der Politik klar war, dass man mit
       Bürgern so nicht umgehen kann, da habe man "staunend dahingeschaut", sagt
       Rebecca Harms.
       
       Es ist Sonntag. Sie steht im Wald. Leute drängen Richtung Schiene. "Was für
       Stuttgart gilt, muss auch für das Wendland gelten", sagt sie. Um sie herum
       werden die Wasserwerfer in Stellung gebracht.
       
       7 Nov 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Peter Unfried
       
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