# taz.de -- Aus der Deutschland-taz: No Integration, Baby!
       
       > In vielen Großstädten hat jeder dritte Erwachsene einen
       > Migrationshintergrund. Das Gesicht des Landes hat sich verändert. Schafft
       > den Begriff Integration ab!
       
 (IMG) Bild: Ausgrenzung ist immer ein Verzicht auf Talent.
       
       Integration macht uns glauben, es gebe ein richtiges und ein falsches
       Leben. Und die aus dem Falschen müssten sich gefälligst ins Richtige
       begeben. Was aber sind die Kriterien von richtig und falsch? Wenn alle der
       Integration das Wort reden, setzen sie selbstverständlich voraus, dass
       Ausgrenzung da ist, und zu bleiben hat.
       
       In Zeiten der Globalisierung greift es zu kurz, weil Ausgrenzung immer ein
       Verzicht auf Talent ist. Wenn in diesem Land mehr als vier Millionen
       Menschen funktionale Analphabeten sind, kann es sich nicht nur um
       Doulatabadis, Gülüoglus oder Markovics handeln.
       
       Was heißt es für den aktuellen Integrationsbegriff, wenn Schulz, Meier und
       Müller keine Tageszeitung mehr lesen und seit Jahren keinen Job haben? Wer
       ruft sofort nach Integration, wenn assimilierte Bürger formally known as
       Ossis heute sich so gar nicht zugehörig fühlen? Wenn in Straßencafés
       Berlins Latte und Aperol Spritz bestellt wird, wo sie sich dort gerne das
       Herrengedeck zurückwünschen.
       
       Es geht darum, den Blick auf etwas ganz anderes zu lenken: auf Teilhabe,
       darauf, die gesellschaftlichen Bedingungen zu verändern, damit all diese
       Gruppen einen Teil vom Kuchen abbekommen. Und es geht auch um etwas
       scheinbar Altmodisches: Demokratie.
       
       Der Referenzrahmen unseres Lebens wird immer weniger der Nationalstaat
       sein. Schon heute handelt das Leben davon, dass uns beispielsweise das
       Schicksal der Menschen in Afrika nicht nur berührt, sondern wir etwas dafür
       tun, damit sich ihre Lebensbedingungen verbessern. Das machen wir nicht,
       weil wir plötzlich bessere Menschen sind, sondern weil die anderen ihr
       Streben für ein besseres Leben immer mehr zu uns tragen. Indem sie mit
       Schlauchbooten das Mittelmeer überqueren oder die Grenzen Europas
       überwinden, führen sie uns vor Augen, dass das Konstrukt Nation keine
       Antwort auf die Fragen der heutigen Welt geben kann. Wenn es so kommt, dass
       ihr Leben unser Leben wird und umgekehrt, dann mag alles noch komplizierter
       werden.
       
       Deutschlands Gesicht wandelt sich, ebenso auch das Verständnis davon, was
       und wer heute deutsch ist. Dies geschieht langsam, aber stetig, sichtbar
       und in den Köpfen. Während früher das Abstammungsprinzip galt, verstehen
       sich heute immer mehr Menschen als deutsch - ganz gleich wie "anders" sie
       aussehen. In vielen Ballungsräumen und Großstädten hat jeder dritte
       Erwachsene und haben Zweidrittel aller Kinder einen Migrationshintergrund.
       
       Insgesamt sind es im Jahr 2009 15,6 Millionen Menschen, das entspricht
       einem Fünftel der Bevölkerung. Das bildet sich in keiner Branche ab. Heute
       haben nur 2,4 Prozent der Mandatsträger in Landesparlamenten einen
       Migrationshintergrund, auch in der Wirtschaft ist diese Quote noch
       verschwindend gering, bei der Beamtenschaft liegt sie bei rund 1,5 Prozent
       und bei Journalisten schätzungsweise bei 2 bis 3 Prozent. Glauben Sie bloß
       nicht, bei der taz ist das grundlegend anders.
       
       Mit dem Hype um Sarrazin und seinen Bestseller hat sich eine
       Integrationsdebatte mit hysterischen Entgleisungen entfacht, die noch lange
       nicht beendet ist. Dass dabei pauschalisierend über Migranten geurteilt
       wird und Islamfeindlichkeit im Feindbildranking der Gesellschaft ihre
       Spitzenposition ausgebaut hat, sind einige der Folgen.
       
       Hartnäckig behauptet sich die Politik der Klassifizierung von Migranten in
       gute und schlechte, bereichernde und Probleme schaffende, christliche und
       islamische, junge und alte, ausgebildete und ungelernte. Mit dieser Sicht
       geht einher, dass man sich der Illusion hingibt, es könnte einen Masterplan
       für Integration und Migration geben, eine Art Handlungsanleitung für ein
       Land, das sich nicht abschafft, sondern durch tief greifende Veränderungen
       in Zeiten der Globalisierung neu erfinden muss.
       
       6 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Pegah Ferydoni
 (DIR) Imran Ayata
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Deniz Yücel
       
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