# taz.de -- Ein Jahr mit Thilo Sarrazin: Mist zu Gold
       
       > 365 Tage mit der Dauerschleife Thilo Sarrazin gehen zu Ende. Und ich weiß
       > jetzt, dass Inhalte nicht zählen und Moral gebeugt werden muss. Meine 10
       > Lektionen, die ich gelernt habe.
       
 (IMG) Bild: Journalistische Arbeit: Gib nicht auf, wenn du es nicht gleich schaffst, das Niveau zu unterbieten.
       
       Am Weihnachtsmorgen beging ich einen Fehler. Ich las Zeitungen, klickte
       mich im Internet von Feuilleton zu Feuilleton. Und wurde nostalgisch.
       Früher, da hat man zu Weihnachten tiefsinnige Texte über Philosophie,
       Humanismus und Völkerverständigung gedruckt. Heute hingegen? Die FAZ bringt
       Sarrazin. Der Spiegel debattiert den Islam - und Sarrazin. Leon de Winter
       in der Welt macht seinen eigenen Sarrazin.
       
       Also beschloss ich, ein Resümee zu ziehen, was ich aus diesem Jahr voller
       Sarrazin gelernt habe. Mensch, das kannste nicht machen, sagten Bekannte,
       es wurden schon tausend Texte über diesen Typen geschrieben, das wird doch
       langweilig.
       
       Aber das genau ist die 1. Lektion, die ich gelernt habe: Seriöse
       Publizisten genieren sich, immer wieder dasselbe zu schreiben, weil sie auf
       die Kraft der Vernunft vertrauen und meinen, ein gutes Argumente gelte
       schließlich bis in alle Ewigkeit. Die Gegenseite bekümmern ihre
       Wiederholungen nicht. Sie glauben, durch anhaltendes Spinnen würde Mist zu
       Gold, und in ökonomischer Hinsicht klappt dies oft auch.
       
       2. Lektion: Man sei bei seinen Meinungsäußerungen nicht zu bescheiden.
       Mögen sich die anderen vor Fremdscham krümmen, wenn sie dein Selbstlob
       lesen, du aber sonne dich im Glanz deiner Erfolge. Wie Sarrazin in der
       Weihnachts-FAZ: "Ein Teil von mir platzt vor Autorenstolz, aber im
       Hintergrund mahnt eine Stimme, dass solche Verkaufszahlen nicht nur deshalb
       zustande kommen, weil ein Buch gut ist."
       
       Die 3. Lektion gilt der Kunst des Tabubruchs. Recycle eine Rede, deren
       magere These du bereits in einem Dutzend einstündiger Fernsehinterviews
       breitgetreten hast, vergewissere dich, dass die Masse Zustimmung johlend
       hinter dir steht, und beginne mit den Worten: "Ich werde jetzt etwas
       Unerhörtes sagen!"
       
       4. Lektion: Dem Gegner lässt sich am besten der Wind aus den Segeln nehmen,
       indem man seine Reaktion von der inhaltlichen auf die psychopathologische
       Ebene herunterdrückt. Vorab und pauschal natürlich. Siehe Jan Fleischauer
       im Weihnachts-Spiegel: "Unglückseligerweise paart sich im Fall der Muslime
       die grundsätzliche Empfindlichkeit einer Minderheit mit einer besonders
       stark ausgeprägten Kränkungsbereitschaft. Ich war drei Jahre lang Mitglied
       der Deutschen Islamkonferenz. Mir sind noch nie im Leben so viele so
       schnell beleidigte Menschen begegnet."
       
       5. Lektion: Gerade beim Thema Islam darf man keine Hemmungen haben,
       schlicht Falsches behaupten. Niemand wird es überprüfen. Und selbst wenn es
       als falsch widerlegt wird, die Kraft deiner Aussagen wird dies nicht
       schwächen. Hab auch keine Gutmenschenskrupel von wegen "Volksverhetzung"!
       Zur Einstimmung lies Necla Kelek oder Leon de Winters Weihnachtsartikel
       über den Islam als "Kriegsideologie selbstbewusster vereinter Wüstenstämme,
       die nach der ewigen Herrschaft über die von ihnen eroberten Länder
       trachten".
       
       Karrierechance für die Muslima 
       
       6. Lektion: Sofern dir die biografischen Voraussetzungen gegeben sind,
       werde Islamkritiker-Jude oder -Muslimin, und die Medienlandschaft wird dich
       für jedes gehässiges Wort reich entlohnen. Leider kaum Juden, dafür aber
       umso mehr Musliminnen haben diese Karrierechance bereits ergriffen.
       Achtung: Weiblich sollte der Muslim sein wegen authentischer Verkörperung
       der orientalisch-patriarchalischen Opferproblematik. Glücklich der
       Fernsehsender, der gar einen männlichen Opfermuslim plus einen
       Islamkritiker-Juden vor den Karren einer spät abendlichen Plauderstunde
       spannen kann.
       
       Lektion 7 handelt von der Suggestion, nämlich: Was du mit einem korrekten
       deutschen Satz nicht auszudrücken vermagst, suggeriere mit einer
       Schlagzeile oder einem Foto. Gib nicht auf, wenn du es nicht gleich
       schaffst, das Niveau deines letzten Titels ("Wer hat den stärkeren Gott?",
       Weihnachts-Spiegel 2009) zu unterbieten. Versuche es weiter ("Mythos
       Mekka", 2010)! Dass etwas bemüht aufsehenerregend klingt, darf nun wirklich
       kein Kriterium sein.
       
       Vergiss dabei nie, Lektion 8, dass es nicht um die Inhalte geht, sondern
       immer um das Produkt, das du anpreist. Nimm jede Möglichkeit mit, einen
       "Aufreger" zu produzieren. Wenn das funktioniert, wird dir jeder
       Schwachsinn verziehen. Sitze nicht jenem Missverständnis auf, dem
       insbesondere Laien gern erliegen: Es geht nicht allein ums Verkaufen!
       Sondern um Aufklärung. Und lerne: Das Erregen von Aufsehen und Neid unter
       Kollegen steht im Mittelpunkt jedes gesunden Testosteronfeuilletons.
       
       9. Sofern du einer Zeitungs- oder Fernsehredaktion angehörst, vergiss nie,
       auf dein Gewissen zu hören. Denn wenn du auf dein Gewissen nicht hörst,
       kannst du dir niemals so gute Ausreden für das ausdenken, was erkennbar
       niedrigen Wert hat, aber gemäß Lektion 8 publiziert werden muss. Meine es
       durchaus ernst, bade in Skrupeln! Danach tue das Verwerfliche trotzdem. Ich
       habe in diesem Jahr mit so vielen zerknirschten, an ihrer publizistischen
       Verantwortung schwer tragenden Kollegen diverser Zeitungs- und
       Fernsehredaktionen telefoniert wie noch nie zuvor.
       
       Manche riefen mich an, weil sie zum Beispiel ihre Sarrazin- oder
       Kelek-Interviews bedauerten. Am Ende ihrer Monologe stand immer der Satz:
       "Ich denke trotzdem, es war gut, dass wir's gemacht haben" (weil sich
       jemand "selbst entlarvt" habe, weil etwas "Latentes zum Vorschein" gekommen
       sei, weil sie es "kritisch begleitet" hätten etc.).
       
       Lektion 10: Wir Journalisten nennen uns oft die vierte Macht im Staat und
       wähnen uns frei nach Jürgen Habermas Akteure einer kritischen
       Öffentlichkeit. Verliere darüber deine Ziele nicht aus den Augen! Vergiss
       nicht: Politiker sind beeinflussbar, weil sie alle vier Jahre wiedergewählt
       werden wollen. Unser Stern steigt und sinkt dagegen mit jeder Ausgabe! Wir
       sind also noch viel beeinflussbarer. Erinnere dich an Regel 9: Eine
       wohlerzogene Moral wird deinen Ambitionen nicht im Weg stehen, sondern sich
       ihnen gerne beugen. Und nun mit voller Kraft ins nächste Jahr.
       
       29 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hilal Sezgin
       
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