# taz.de -- Generalsekretärin über Amnestys Arbeit: "Es ist fast schon eine Ersatzreligion"
> Monika Lüke, Amnesty-Generalsekretärin in Deutschland, über neue Aufgaben
> im Kampf für Menschenrechte und die umstrittenen Strategien ihrer
> Organisation.
(IMG) Bild: Kein Mensch ist mehr wert als der andere: Amnesty-Aktivisten mit Masken des chinesischen Friedensnobelpreistraegers Liu Xiaobo.
taz: Frau Lüke, Amnesty International wird in diesem Jahr 50 Jahre alt,
Jetzt gehören Sie wirklich dazu.
Monika Lüke: Wozu?
Zu den großen alten Institutionen wie Kirchen, Gewerkschaften und
Volksparteien. Haben Sie auch mit Mitgliederschwund und mangelndem
Engagement zu kämpfen?
Nein, im Gegenteil. Wir sind zwar eine gefestigte, eine anerkannte
Organisation, aber wir wachsen immer noch, weltweit und in Deutschland.
Profitieren Sie also eher von der Krise der alten zivilgesellschaftlichen
Institutionen?
Ich denke, ja. Menschen engagieren sich heute nicht weniger, sondern
anders, zum Beispiel bei Amnesty International.
Was macht Amnesty attraktiver?
Es ist diese Mischung aus ganz konkreter Arbeit für einzelne bedrohte
Menschen und einer sehr grundsätzlichen Werteorientierung. Der Einsatz für
Menschenrechte ist heute für manche fast schon eine Ersatzreligion.
Konkrete Arbeit ist aber vor allem dann attraktiv, wenn man auch etwas
erreichen kann. Wie erfolgreich ist der Einsatz von Amnesty?
Wenn wir Eilaktionen für bedrohte Menschen und Gefangene organisieren, dann
ist im Schnitt mindestens ein Drittel erfolgreich. Nicht immer wird der
Gefangene freigelassen, aber auch eine Verbesserung der Haftsituation, etwa
eine medizinische Behandlung oder besseres Essen, kann im Einzelfall eine
große Erleichterung darstellen.
Darf man Amnesty heute noch als Gefangenen-Hilfsorganisation bezeichnen?
Der Begriff ist zu eng. Wir setzen uns zwar immer noch für die Freilassung
gewaltloser politischer Gefangener ein. Seit der Gründung von Amnesty haben
wir das Mandat aber immer wieder erweitert.
Was kam hinzu?
In den 70er Jahren gab es Kampagnen gegen Folter und Todesstrafe. Seit
Mitte der 70er setzen wir uns in Deutschland auch für die Rechte von
Flüchtlingen ein, seit Mitte der 90er für Frauenrechte. Die letzte große
Erweiterung des Mandats war 2001. Amnesty wurde nun zu einer umfassenden
Menschenrechtsorganisation, die sich auch für die wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Rechte der Menschen einsetzt.
Kritiker sagen, Amnesty International habe das klare Profil verloren, sei
heute ein Gemischtwarenladen.
Ich finde unsere Entwicklung konsequent. Menschenrechte sind unteilbar.
Kein Menschenrecht ist mehr wert als andere. Außerdem kann sich jemand, der
Hunger hat oder keine Wohnung, auch nicht für seine politischen Rechte
einsetzen.
Und deshalb kämpft Amnesty heute auch für Umverteilung?
Wir kämpfen nach wie vor für Menschenrechte. Deren Verwirklichung kostet
auch Geld - ob es um den Aufbau einer funktionsfähigen Justiz geht oder
eines effizienten Gesundheitssystems. Ich finde, die Unterscheidung
zwischen politischen und sozialen Rechten ist eine künstliche Debatte.
Gegen Hunger und für Gesundheitsstationen in Afrika setzen sich aber auch
viele andere Organisationen ein, von Brot für die Welt bis Medico
International. Und für die politische Kritik der Globalisierung gibt es
Attac. Braucht man denn dabei auch noch Amnesty International?
Ja. Uns geht es darum, die politischen Rahmenbedingungen zu ändern. Die
Menschen vor Ort sollen in die Lage gebracht werden, ihre Rechte einfordern
zu können. Für uns sind die Menschenrechte nicht nur ein Instrument zur
Verwirklichung humanitärer Ziele, sondern ein Wert an sich.
Ihre aktuelle Kampagne heißt "Mit Menschenrechten gegen Armut". Viel
instrumenteller geht es ja kaum.
Diesen Slogan kann man vielleicht missverstehen. Aber wenn Menschen durch
Zwangsräumungen in die Armut getrieben werden, dann ist
Menschenrechtsarbeit auch Armutsbekämpfung. Wir weisen darauf hin, dass die
Menschenrechte armer Menschen besonders bedroht sind.
In Deutschland waren die Amnesty-Mitglieder über die Erweiterung des
Mandats nicht so begeistert.
Es gab intensive Diskussionen. Aber die große Mehrheit trägt diese
Entwicklung mit. Gerade jüngere Amnesty-Mitglieder finden die Erweiterung
des Mandats auf soziale und wirtschaftliche Menschenrechte ausgesprochen
gut.
Haben vor allem Amnesty-Sektionen in Europa und den USA Probleme mit dem
breiteren Profil?
Der klassische Amnesty-Ansatz, die Freiheit gewaltloser politischer
Gefangener einzufordern, gegen Folter und Todesstrafe zu kämpfen, war vor
allem im Westen verankert. Aber Zwangsräumungen in Slums, bei denen
Menschen ihr Obdach und oft auch ihre Erwerbsgrundlage verlieren, Kinder
nicht mehr in die Schule gehen können, greifen ebenfalls direkt die
Menschenwürde an. Das passiert weltweit millionenfach, vor allem in Asien
und Afrika. Wenn wir dort mehr für die Menschenrechte tun wollen, ist ein
umfassendes Mandat für alle Menschenrechtsverletzungen notwendig.
Warum dauerte es nach der Erweiterung des Mandats im Jahre 2001 immerhin
acht Jahre, bis Amnesty eine Kampagne gegen die Armut startete? War der
interne Widerstand denn so groß?
Nein, das hatte andere Gründe. 2001 begann in den USA und anderen Ländern
der Krieg gegen den Terror. Das hat viele Ressourcen von Amnesty jahrelang
absorbiert.
Amnesty wird immer größer und professioneller. Welche Rolle spielen
ehrenamtliche Basis-Aktivisten heute noch?
Der ehrenamtliche Einsatz für einzelne Gefangene oder bedrohte Personen ist
bei Amnesty nach wie vor zentral. Daher rühren unsere Glaubwürdigkeit und
unser moralisches Gewicht. Darauf basiert auch unsere Fähigkeit zur
Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit.
Früher war es bei Amnesty tabu, sich für Gefangene im eigenen Land
einzusetzen. Heute äußert sich Amnesty Deutschland zur deutschen
Außenpolitik, zur Situation von Flüchtlingen und zu Polizeiübergriffen in
Deutschland. Warum?
Für eine menschenrechtsorientierte deutsche Außenpolitik haben wir uns
schon in den 60er Jahren starkgemacht. Auch die Flüchtlingspolitik hat eine
Verbindung zur Situation im Ausland. Neu ist nur, dass Amnesty auch
Polizeigewalt in Deutschland thematisiert. Das haben wir erstmals 1995
gemacht. Wir haben hier eine sehr große Glaubwürdigkeit, weil wir sehr
genau recherchieren.
Das Verbot, sich im eigenen Land zu engagieren, gibt es bei Amnesty
International also nicht mehr?
Das gilt seit Jahren nur noch eingeschränkt. Es wäre Aktivisten in einem
afrikanischen Land mit schweren Menschenrechtsverletzungen auch kaum
verständlich gewesen, warum sie sich mit politischen Gefangenen in Russland
und Iran beschäftigen sollen, nicht aber mit den Problemen im eigenen Land.
Wie verhindert Amnesty, dass in einem Land die politische oder ethnische
Opposition eine Amnesty-Sektion aufmacht, um nun mit dem Renommee von
Amnesty die heimische Regierung anzugreifen?
Wir gewährleisten durch eine enge Betreuung aller nationalen Sektionen,
dass Amnesty politisch neutral bleibt.
In vielen Jahren beschäftigen sich die meisten Presseerklärungen von
Amnesty mit den USA. Sind die USA - verglichen mit all den Diktaturen der
Welt - wirklich eine Hauptgefahr für die Menschenrechte?
Die USA sind eines der mächtigsten Länder der Erde, wirtschaftlich,
politisch und militärisch. Wenn dort gefoltert wird und Gefangene jahrelang
ohne Gerichtsverhandlung interniert werden, dann ist das besonders
besorgniserregend. Gleichzeitig bekennen sich die USA zu den
Menschenrechten und sind über eine kritische Öffentlichkeit ansprechbar,
weshalb wir besonders häufig versuchen, auf die US-Politik Einfluss zu
nehmen.
2 Jan 2011
## AUTOREN
(DIR) Christian Rath
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