# taz.de -- Essay Neues Mediengesetz: Das ungarische Desaster
       
       > Das neue Mediengesetz ist nur die Spitze einer Entwicklung: Ungarns
       > Regierungschef Viktor Orbán ist weit vorangekommen bei seinem autoritären
       > Umbau.
       
 (IMG) Bild: Protest in 23 Sprachen: Mit diesem Titel erscheint heute die größte überregionale Zeitung Ungarns.
       
       Ich hasse es, diesen Artikel zu schreiben. Weil ich mich den alarmierenden
       autoritären Entwicklungen in meinem Land entgegenstelle und für die
       Wiederherstellung der Bürgerrechte plädiere, könnte ich als jemand
       erscheinen, der ich definitiv nicht bin: jemand, der glaubt, dass die
       liberale Demokratie in ihrer europäischen Ausprägung des 21. Jahrhunderts
       eine politische Ordnung ist, die unreformiert am Leben erhalten werden
       sollte.
       
       Niemand wünscht sich diese Welt zurück, in der Chaos, Armut, Korruption,
       Kriecherei, Bestechlichkeit, Schacher, Verachtung der Unterschichten,
       Ungleichheit und Heuchelei anfingen sich auszubreiten, und das in dem
       legendären Jahr aller unserer Hoffnungen - 1989. Als einer der
       Gründungsväter der ungarischen Republik bin ich alles andere als stolz. Im
       Gegenteil.
       
       Auch will ich nicht im Namen eines wolkigen Europäertums im Namen von
       Sarkozy, Berlusconi, Bossi, Geert Wilders und Horst-"Multikulti ist
       tot"-Seehofer sprechen. Nicht viele Menschen würden Kritik vonseiten der EU
       gutheißen, mit ihrer idiotischen Politik unmöglich niedriger
       Defizitvorgaben, strenger Sparmaßnahmen, Kürzungen im öffentlichen Sektor
       und einem allgemeinen Sozialabbau - eine Politik, die den ärmeren und
       schwächeren Mitgliedstaaten riesige Probleme bereitet.
       
       Die ungarische Geschichte ist ein lehrreiches und warnendes Beispiel, das
       zeigt, wie zerbrechlich die europäischen bürgerlichen Demokratien in diesen
       wirren und dekadenten Zeiten geworden sind. Dort, wo soziale Solidarität
       und der Zusammenhalt aufgrund von Gerechtigkeit fehlen, kann von den
       Bürgern nur schwerlich erwartet werden, dass sie liberale Institutionen,
       Checks and Balances und Gewaltenteilung verteidigen.
       
       Ihre Mehrheit ist gewaltig 
       
       Seit April 2010, als die ungarische Rechte eine Zweidrittelmehrheit im
       Parlament erreichte, und vor allem nach den Kommunalwahlen im September
       (die Rechte bekam 93 Prozent in den Dörfern und Städten und stellt jetzt
       die Mehrheit in allen Regierungsbezirken) wurden fieberhaft Gesetze
       verabschiedet, die Ungarn für immer verändern könnten.
       
       Zunächst verurteilte das Parlament in einem feierlichen Akt den Vertrag von
       Trianon von 1920 und stellte Angehörigen der ungarischen Minderheit in den
       Nachbarstaaten die ungarische Staatsbürgerschaft in Aussicht. Sodann wurden
       alle staatlichen Institutionen und öffentlichen Gebäude angewiesen, ihre
       Wände mit dem grundsätzlichen Bekenntnis des neuen Regimes zu schmücken -
       der Erklärung zu einer Nationalen Kooperation (das Regime nennt sich
       offiziell System "Nationaler Kooperation", und die Regierung ist eine
       Regierung der Nationalen Einheit).
       
       Weiterhin wurden die Wahlgesetze geändert, um es kleinen Parteien zu
       erschweren, ins Parlament zu gelangen. Außerdem wurde das
       Verfassungsgericht kastriert. Zu guter Letzt wurden die Spitzenposten bei
       der Generalstaatsanwaltschaft für neun Jahre, des Rechnungshofes sowie der
       lokalen Rechtsorgane mit Politikern des rechten Flügels besetzt. Die
       Geheimdienste wurden umstrukturiert und ein neues Antiterrorismuszentrum
       unter Leitung von Viktor Orbáns früherem persönlichen Leibwächter
       geschaffen.
       
       Die Regierung hat das Führungspersonal in allen staatlichen Behörden
       ausgetauscht - vor allem bei der Polizei, den Steuer- und Zollbehörden und
       in der Armee. Sie hat ein Gesetz verabschieden lassen, wonach alle
       Staatsbediensteten ohne Begründung entlassen bzw. Nachfolger ohne die
       erforderliche Qualifikation eingestellt werden können. Gegen frühere
       Funktionäre - allesamt Sozialisten oder Liberale - wird wegen Korruption
       ermittelt, oder es sind Verfahren anhängig.
       
       Neue Bildungsgesetze wurden verabschiedet oder sind in Vorbereitung. Sie
       bekräftigen Disziplin, machen die Prüfungen schwerer und geben
       Schuldirektoren größere Machtbefugnisse. Diese Maßnahmen zielen auf eine
       Trennung der Eliteschulen von anderen Bildungseinrichtungen und auf eine
       Verringerung der Zahl von Hochschulstudenten. Ein landesweiter nationaler
       Lehrplan für Geschichte und Geisteswissenschaften wird eingeführt.
       
       Die nationale Pädagogik hört hier jedoch nicht auf: Soziale Unterstützung
       können nur noch diejenigen erhalten, die in "geordneten Verhältnissen"
       leben. Das ermöglicht es der kommunalen Verwaltung, die Unterstützung
       missliebiger Schichten und Minderheiten zu verweigern. Bei einigen
       Angestellten des öffentlichen Dienstes ist es dem Staat erlaubt,
       Nachforschungen über ihr "untadeliges Privatverhalten" inklusive ihrer
       Familien anzustellen. Kleine Diebstähle werden unabhängig vom materiellen
       Wert streng bestraft, auch wenn die Täter minderjährig sind. Bei der
       dritten Verfehlung kann eine besonders schwere Strafe verhängt werden. Das
       Ergebnis ist, dass der Staat bereits geschlossene Gefängnisse wieder öffnen
       musste.
       
       Konservative Köpfe von akademischen Institutionen haben vor den Wahlen
       damit begonnen, weitreichende, politisch motivierte Säuberungen
       durchzuführen. Und diese werden unaufhörlich fortgesetzt. Zwei bedeutenden
       Forschungsinstitute, die zuvor vom Staat finanziert wurden - das
       1956-Institut und das Institut für politische Geschichte - wurden die
       Gelder entzogen. Alle Universitäten sind fest in konservativer Hand.
       Theaterleiter sind durch traditionalistische Konservative ersetzt worden -
       die Operette tritt an die Stelle der Avantgarde. Alternative und freie
       Theater haben ihre finanzielle Unterstützung verloren.
       
       Filme, Bücher, Zeitungen 
       
       Die Finanzierung der ungarischen Filmindustrie ist vollständig gestrichen
       worden. Als Nächstes, so wird gesagt, komme das Verlagswesen an die Reihe.
       All dem folgt das infame Mediengesetz, das in der internationalen Presse
       Gegenstand intensiver Berichterstattung war. Dieses Gesetz erlaubt der
       Regierung, neben einer offenen politischen Zensur von Inhalten, die Medien
       mit Strafen zu ruinieren, die von einer Medienaufsichtsbehörde willkürlich
       festgelegt werden. An der Spitze dieser Medienbehörde steht eine
       rechtsgerichtete Politikerin, die auf neun Jahre ernannt wurde und die die
       Macht hat, Radiofrequenzen zu vergeben und Inhalte im Internet zu
       zensieren.
       
       Aber all das ist nichts im Vergleich zu dem, was ich als Positive Zensur
       bezeichne. Diese räumt dem Staat die Macht ein, Medien zu zwingen,
       Nachrichten oder Inhalte zu verbreiten, die "Angelegenheiten von nationaler
       Bedeutung" enthalten oder andernfalls mit Strafen belegt zu werden. Strafen
       in Millionenhöhe können über Medien verhängt werden, die die Gefühle von
       Minderheiten oder Mehrheiten verletzen. Die Medienbehörde selbst darf
       darüber richten. Der öffentliche Rundfunk wird zentralisiert. Nachrichten
       fürs öffentliche Radio und Fernsehen werden ausschließlich von einem neuen
       Zentrum aus verbreitet, das Teil der staatlichen Nachrichtenagentur ist,
       und von niemandem sonst. Die Chefs der öffentlichen Kanäle sind alle neu
       ernannt worden, es sind alles rechtsgerichtete Journalisten, die meisten
       kamen von rechten Talkradios und den rechten oder extremen Kabelsendern.
       Hunderte Journalisten im öffentlichen Rundfunk sind schon gefeuert worden,
       anderen ist dies in Aussicht gestellt.
       
       Das Recht zu streiken ist extrem eingeschränkt worden. Die
       Verhandlungsrechte von Mediengewerkschaften sind offen ignoriert worden.
       Die Sozialgesetzgebung transferiert Geld von den Armen an die weiße und
       junge Mittelklasse. Eine einheitliche Steuer wird eingeführt, die die
       Reichsten bevorteilt, während die indirekten Konsumsteuern brutal angehoben
       werden.
       
       Und das Land verhält sich ruhig.
       
       Die Kritik des Mainstreams am System der nationalen Kooperation ist
       ineffektiv, denn sie wird als Unterstützung der vorherigen Regierung
       wahrgenommen - im Einzelnen der neokonservativen sozialen und ökonomischen
       Politik, die ganz tief und zu Recht unpopulär ist, verbunden mit einer
       liberalen Fassade, einem künstlichen Pluralismus und einer Toleranz, die
       von vielen als unwichtige und perverse Spiele der abgehobenen, städtischen
       Eliten erlebt wurde. Es gibt keine Trauer um die Demokratie, da fast
       niemand geglaubt hat, dass wir in einer Demokratie lebten. Justiz und
       Polizei haben nicht erst heute angefangen, unfair, ungerecht, brutal und
       ineffektiv zu sein.
       
       Offene rassische Trennung 
       
       Die Orbán-Regierung war ganz außerordentlich erfolgreich darin,
       rechtsextreme, paramilitärische Gruppierungen zu spalten und zu
       zerschlagen, um damit einem aufkommenden einheimischen rassistischen und
       faschistischen Terrorismus Einhalt zu gebieten. Gewiss mit fragwürdigen
       Polizeistaatsmethoden, die aber natürlich in diesem Fall von den Liberalen
       nicht kritisiert wurden. Die Roma-Frage wird als ein Problem der
       Kriminalität behandelt, die rassische Trennung wird von der Rechten ganz
       offen propagiert, Integrationsprogramme sind eingestellt worden. Fragen der
       Rasse oder der Ethnizität sind aus den öffentlichen Diskussionen
       verschwunden, das noch verbliebene Mitte-links-Spektrum hat sich von diesem
       Thema verabschiedet, weil es hoffnungslos ist. "Antifaschismus ist ein
       Verbrechen", hat ein führender konservativer Kolumnist, Universitätslehrer
       und Redakteur einer angesehen Monatszeitschrift erklärt.
       
       An diesem Punkt stehen wir heute. Es gibt keinen Weg zurück zu einer
       erfolglosen und unpopulären liberalen Ära. Eine Alternative zu einer neuen
       autoritären Ordnung ist derzeit nicht in Sicht.
       
       Übersetzung aus dem Englischen: Barbara Oertel und Georg Baltissen
       
       3 Jan 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) G. M. Tamás
       
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