# taz.de -- 15.000 protestieren gegen Mediengesetz: Keine Selbstzensur in Ungarns Medien
       
       > Ungarns Zeitungen wollen sich von Strafen aufgrund des repressiven
       > Mediengesetzes nicht einschüchtern lassen. Einige spüren bereits einen
       > Anzeigenboykott staatlicher Institutionen.
       
 (IMG) Bild: An die 15.000 Menschen protestierten gegen das repressive Mediengesetz, darunter viele junge Leute, die einem Aufruf über Facebook gefolgt waren.
       
       BUDAPEST taz | Imre Mécs, ein Veteran des Aufstandes von 1956, fühlt sich
       an die revolutionäre Stimmung von damals erinnert, als das stalinistische
       Regime ins Wanken gebracht wurde. Auch Ungarns Premier Viktor Orbán strebe
       einen autoritären Staat an, meint der 77-Jährige, der nach der
       Niederschlagung des Aufstands neun Monate auf den Galgen wartete.
       
       Von Umsturz ist Ungarn weit entfernt. Doch mit einer Demonstration vor dem
       Parlament gab die Opposition am Freitagabend ein deutliches Lebenszeichen.
       An die 15.000 Menschen protestierten gegen das repressive Mediengesetz,
       darunter viele junge Leute, die einem Aufruf über Facebook gefolgt waren.
       Ádám Nádasdy, Professor für englische Literatur, ist zufrieden, schränkt
       aber ein, dass er viele Bekannte gesehen hätte. Die Proteste hätten noch
       nicht auf unpolitische Kreise übergegriffen.
       
       Unbeeindruckt blieb Viktor Orbán, dessen Fidesz über eine
       Zweidrittelmehrheit im Parlament gebietet. Iván Bedö, Redakteur beim
       Wochenmagazin HVG, das als der ungarische Spiegel gilt, sieht keine
       Anzeichen, dass der Premier, wie gegenüber der EU-Kommission versprochen,
       besonders umstrittene Paragrafen des Mediengesetzes zurücknehmen werde. Bei
       HVG lasse man sich aber nicht einschüchtern, versichert Bedö.
       
       Von der WAZ-Gruppe in Essen, die 75 Prozent der Anteile hält, habe man
       keine Verhaltensempfehlungen bekommen. Allerdings hat WAZ-Chef Bodo Hombach
       die Chefredakteure der ungarischen Blätter aus dem Verlagsimperium nach
       Essen geladen. Es zirkulieren Gerüchte, dass sich die WAZ aus Ungern
       zurückziehen will.
       
       Auch bei der linksliberalen Tageszeitung Népszabadság denkt man nicht an
       Selbstzensur. Chefredakteur Károly Vöros, der für die Solidarität vieler
       Medien in Europa dankbar ist, hat in einem Neujahrsbrief an die Mitarbeiter
       die Erwartung geäußert, dass alle genauso gewissenhaft und verantwortlich
       arbeiten werden, wie bisher. Der Schweizer Medienmoloch Ringier, dessen
       Verkaufsgesuch an Alex Springer seit Monaten beim Kartellamt liegt, hat
       sich zu den Zensurbefürchtungen nicht geäußert.
       
       "In redaktionelle Angelegenheiten mischen sie sich nie ein", sagt Vörös.
       Man verfüge über einen Budgetposten für Gerichtskosten und Strafzahlungen,
       falls die Zeitung einen Prozess wegen übler Nachrede oder Verleumdung
       verliere. Bisher sei dieser Fonds nie ausgeschöpft worden, da Népszabadság
       die meisten Prozesse gewinne.
       
       Wenn die neue Medienbehörde NMHH zuschlägt, ist keine Berufung vor einem
       Gericht zulässig und die Strafen, die sie verhängen kann, sind hoch. Die
       Gummiparagrafen wie Paragraf 17, Absatz 2, der es verbietet, "Minderheiten
       oder Mehrheiten […] offen oder geheim zu beleidigen oder auszugrenzen",
       geben den Zensoren freie Hand, nach Belieben einzuschreiten. Solchen Unsinn
       dürfe man nicht stehen lassen, auch wenn jetzt versichert wird, dass
       niemand daran denke, kritische Äußerungen zu unterdrücken. Paragraf 17 (2)
       wurde in der an die EU übermittelten englischen Übersetzung weggelassen.
       
       Wie sich Annamária Szalai, die Chefin der Medienbehörde, verhalten wird,
       ist noch ein Rätsel. Das Gesetz wurde mit einem sechsmonatigen Moratorium
       ausgestattet, das es den Redaktionen erlauben soll, sich auf die neue Lage
       einzustellen. Es könne kein Zufall sein, glaubt Vöros, dass die volle
       Wirksamkeit einen Tag nach dem Ende von Ungarns EU-Ratsvorsitz eintrete.
       Erst dann wird man sehen, ob sich die Ermittlungen auf regierungskritischen
       Medien beschränken oder auch Leute wie der Kommentator Zsolt Bayer in die
       Schranken gewiesen werden, aus dessen Kolumnen Rassismus und Antisemitismus
       geradezu triefen. Gegen einen seiner Kommentare, in dem der berühmte
       Pianist András Schiff wüst beschimpft wird, hat die grüne Partei LMP bei
       der Medienbehörde Beschwere eingelegt. Der in Florenz lebende Schiff fühlt
       sich in Ungarn bedroht und will in seinem Heimatland nicht mehr auftreten.
       
       Was vielen Zeitungen derzeit weitaus größere Sorgen bereitet als eine
       mögliche Zensur, ist der stille Boykott der staatlichen und staatsnahen
       Institutionen, die ihre Werbung jetzt auf genehme Publikationen
       konzentrieren. Allein Népszabadság soll im zweiten Halbjahr 2010 runde
       200.000 Euro an Werbeeinnahmen verloren haben. Jetzt stehen
       Austeritätsmaßnahmen und Entlassungen an.
       
       16 Jan 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ralf Leonhard
       
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