# taz.de -- Interview mit Antiatom-Aktivist aus Japan: "Noch keine Hinweise auf Vertuschung"
       
       > Philip White von Japans wichtigster Anti-AKW-Organisation über den Umgang
       > der Regierung mit der Katastrophe und das widersprüchliche Verhältnis der
       > Japaner zur Atomenergie.
       
 (IMG) Bild: Ärzte und Helfer prüfen, ob Evakuierte aus den Akw-Umgebungen radioaktiv verstrahlt sind.
       
       taz: Herr White, fühlen Sie sich von Japans Regierung und dem Atomkonzern
       Tepco richtig über die Situation im AKW Fukushima Daiichi informiert? 
       
       Philip White: Wir wissen vieles noch nicht und können deshalb kaum
       beurteilen, wie selektiv die Regierung informiert. Wir hätten gern mehr
       Informationen, aber noch haben wir keine Hinweise auf systematische
       Vertuschungen. Die Regierung legt den Schwerpunkt stark auf die Beruhigung
       der Bevölkerung, um Panik zu vermeiden. Das ist verständlich, denn bei
       Panik können Hilfe und Evakuierungen kaum organisiert werden. Andererseits
       gibt es die Möglichkeit, dass die Situation noch viel schlimmer wird, und
       da untertreibt die Regierung.
       
       Die Regierung sagt inzwischen, sie kann eine Kernschmelze nicht mehr
       ausschließen. Was ist Ihr Bild? 
       
       Eine Kernschmelze oder ein Teil davon ist höchstwahrscheinlich, wir wissen
       nur nicht, wie viel. Zuerst wurde dies auch so über den Reaktor 1 in
       Fukushima Daiichi kommuniziert einschließlich des Austritts radioaktiver
       Stoffe. Inzwischen erkennt die Regierung auch die Möglichkeit einer
       Kernschmelze für den Reaktor Nummer 3 an, wenngleich mit geringerer
       Wahrscheinlichkeit. Nummer 3 wird aber mit Mox-Brennstoff betrieben, also
       einer Mischung aus Plutonium und Uran. Das ist insgesamt schwieriger zu
       kontrollieren, und zugleich ist die Radioaktivität intensiver. Die Angaben
       der Regierung zeigen mir, wie wenig die Regierung selbst weiß.
       
       Wie bewerten Sie die angeordneten Evakuierungen, zuerst im Umkreis von 3,
       dann von 10 und zuletzt von 20 Kilometern? 
       
       Das ist klar zu kritisieren. Am Freitag war bereits vorauszusehen, wie sich
       die Katastrophe entwickeln könnte, und da hätte die Bevölkerung gleich in
       weit größerem Umkreis evakuiert werden müssen. Das hätte aber logistische
       Probleme gegeben, die Teil der Gesamtproblematik sind. Denn wenn ein
       Erdbeben, ein Tsunami und ein Atomunfall gleichzeitig passieren, ist die
       Infrastruktur für die Evakuierung der Bevölkerung zerstört.
       
       Die Antworten auf die verschiedenen Katastrophen müssten eigentlich konträr
       sein. Bei radioaktiver Strahlung sollte man im Haus bleiben, bei einem
       Erdbeben aber gerade nicht. Wahrscheinlich ist die Regierung bisher nicht
       in der Lage, in einem größeren Umkreis zu evakuieren. Um bei einer vollen
       Katastrophe tödliche Strahlenrisiken ausschließen zu können, müsste der
       Evakuierungsradius hundert Kilometer betragen.
       
       Was sollte die Regierung jetzt konkret machen? 
       
       Auf jeden Fall die Menschen in einem weiteren Umkreis evakuieren, wobei ich
       sogar sicher bin, dass die Regierung tut, was sie kann. Ansonsten geht es
       mir um den Grundfehler der Politik: Alle wissen doch, dass Japan ein
       Erdbebenland ist, dass schwere Beben stattfinden können. Und alle wissen
       mit nur ein wenig Nachdenken auch, dass es nach so einem Beben keine
       effektiven Notmaßnahmen nach einem Atomunfall geben kann. Deshalb muss es
       ein Umdenken geben.
       
       Japans Atomkraftwerke stehen am Meer. Kann sich so eine Katastrophe
       angesichts der Gefahr von Erdbeben und Tsunamis jederzeit wiederholen? 
       
       Ja, denn es gibt unserer Meinung nach in Japan keine wirklich
       erdbebensicheren Standorte. Die Betreiber gingen fälschlicherweise immer
       davon aus, dass sie die Erdbebengebiete genau lokalisieren könnten. Das hat
       sich schon mehrfach als Fehler erwiesen. Die ganze Atompolitik basiert
       deshalb auf einer Falschannahme.
       
       Japan ist das einzige Land auf der Welt, über dem jemals Atombomben
       abgeworfen wurden. Aber die Anti-AKW-Bewegung ist dort nicht sehr stark.
       Wie lässt sich dieser Widerspruch erklären? 
       
       Japans Atomgegner haben sehr wohl einige AKWs verhindern können und sind
       nicht ohne Einfluss. Aber natürlich wären wir gern stärker. Verschiedene
       historische Faktoren haben dazu geführt, dass viele Menschen hier glauben,
       Atomwaffen sind schlecht und Atomkraftwerke gut. Die Atomlobby hat es
       erfolgreich geschafft, diese beiden Themen in der öffentlichen Wahrnehmung
       voneinander zu trennen.
       
       Inzwischen ist Japan abhängig von der Atomenergie, und viele sind nicht
       bereit, die Quellen ihrer Energie zu hinterfragen. Aber ich erwarte, dass
       sich das jetzt ändern könnte. Ein Ausstieg über Nacht wäre trotz vieler
       guten Gründe wohl unrealistisch, aber ein Auslaufenlassen nach einer
       vorübergehenden Abschaltung wäre machbar.
       
       Wie soll Japan die Versorgungslücke schließen? 
       
       Die wäre überbrückbar, denn sie wurde schon einmal überbrückt. Tepco hat
       schon einmal all seine Atomkraftwerke runterfahren müssen. Japans
       Infrastruktur besteht aus einem westlichen und einem östlichen Netz,
       zwischen denen es kaum Verbindungen und Ausgleichmöglichkeiten gibt. Der
       gegenwärtige Ersatz sind also überwiegend fossile Brennstoffe, die auch
       nicht gut sind. Es wird ein ganz neues System benötigt, das weder auf
       Atomenergie noch auf fossilen Brennstoffen basiert. Dafür wird eine gewisse
       Zeit benötigt.
       
       13 Mar 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sven Hansen
       
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