# taz.de -- Alltag in Japan nach dem Beben: Die soziale Disziplin
       
       > An den Zapfsäulen bilden sich Schlangen. Essen und Trinken werden
       > rationiert. Mit Geduld und Ruhe trotzen die Japaner den Folgen des
       > Erdbebens.
       
 (IMG) Bild: Warten: Evakuierte Japaner in der Stadt Soma.
       
       TOKIO taz | "Es ist, als ob Natur und Technik sich gegen uns verschworen
       hätte", meinte trocken ein japanischer Journalist am Tag drei nach der
       Erdbebenkatastrophe. Dabei hatte eigentlich der Tag mit der guten Nachricht
       angefangen, dass die Stromsperren in acht Präfekturen rings um die 23
       Stadtviertel von Tokio nicht wie geplant um 6.20 Uhr beginnen würden.
       Stattdessen wurden Bürger, Firmen und Geschäfte zum Energiesparen
       aufgefordert.
       
       Offenbar wolle die Regierung das Wirtschaftsleben weniger stören und die
       Bevölkerung nicht so stark belasten, wurde dies in den TV-Sondersendungen
       kommentiert. Doch wegen Strommangels fuhren weniger Nahverkehrszüge als
       üblich, so dass sich vor vielen Bahnhöfen frühmorgens bis zu mehrere
       hundert Meter lange Schlangen bildeten. Die Pendler wurden nur gruppenweise
       durch die Fahrkartensperren gelassen, um Unfälle auf den Bahnsteigen zu
       vermeiden.
       
       Trotzdem warteten die Menschen geduldig stundenlang. "Shikata ga nai, da
       kann man nichts machen", benutzte ein 45-jähriger Angestellter eine typisch
       japanische Formulierung, um seine Stimmung zu beschreiben. Dabei hatte er
       sich schon extra eine dreiviertel Stunde früher auf den Weg gemacht. "Diese
       Ruhe ist mit der Erziehung und Sozialisation erklärbar", sagt Reinhard
       Zöllner, Leiter des Bonner Japanologischen Instituts, der derzeit in Tokio
       ist. "Es gibt hier eine soziale Disziplin, die sich jetzt positiv auswirkt.
       Man stellt sich an, man wartet. Keiner würde sagen: Ich bin zuerst dran.
       Jeder weiß, es nutzt nichts zu jammern oder zu schreien. Natürlich wird
       getrauert, aber man lässt sich trotzdem nicht gehen."
       
       Auch die Hausfrauen kämpften mit unerwarteten Problemen. Viele Supermärkte
       blieben nämlich am Montag geschlossen. Vor einem Kaufhaus am Stadtrand
       erklärte ein Mitarbeiter, man fürchte um die fortgesetzte Kühlung von
       empfindlichen Lebensmitteln, wenn der Strom wie angekündigt für drei
       Stunden abgedreht würde. Der Andrang in den offenen Läden war daher enorm.
       Teilweise bekamen die Einkaufenden kaum noch einen Fuß auf den Boden.
       Lebensmittel des täglichen Bedarfs waren schnell ausverkauft, darunter
       Brot, Reis, Wasser, Batterien und Fertignudeln zum Aufgießen. In vielen
       Getränkeautomaten, die in Japan an jeder Straßenecke stehen, waren Tee- und
       Wasserflaschen ausverkauft.
       
       Zudem wurde an einigen Tankstellen in den Vororten von Tokio langsam das
       Benzin knapp. An den Zapfsäulen bildeten sich teilweise Schlangen. Einige
       wichtige Raffinerien nördlich von Tokio liegen nämlich im
       Katastrophengebiet und arbeiten nicht mehr. Daher erreicht nicht mehr genug
       Nachschub die Stadt. Ohne Benzin könnten die kleinen Lieferwagen bald nicht
       mehr fahren, die im Großraum Tokio in kurzem Rhythmus die Regale füllen
       helfen. Die Blut- und Nervenbahnen für den gewaltigen Organismus im
       Ballungszentrum Tokio müssen in den nächsten Tagen daher operiert und neu
       verbunden werden, bis die Versorgung wieder reibungslos läuft.
       
       Begleitet wurden solche logistischen Hürden den ganzen Tag durch neue
       Horrormeldungen aus dem Nuklearkomplex Fukushima I. Die damit verbundenen
       Gefahren hätten andernorts längst die Menschen in die Flucht getrieben.
       Doch viele Japaner scheinen sich der Bedrohung nicht bewusst zu sein. Von
       den Menschen, die in Tokio und Umgebung unterwegs waren, trugen nur wenige
       Atemschutzmasken. Viele Kinder spielen im Freien. Jodtabletten sind nur
       schwer zu beschaffen.
       
       Die Bedeutung der Wetterverhältnisse für den Fall einer Freisetzung
       radioaktiver Stoffen wurde in den TV-Sendungen noch kein einziges Mal
       diskutiert. Entweder vermeiden die Medien absichtlich Panik oder sie sind
       sich selbst der Bedeutung dieses Faktors nicht bewusst. Auch der Einsatz
       von Meerwasser für alle drei Reaktoren sollte den Japanern zu denken geben,
       denn er verrät viel: Der Betreiber rechnet nicht mehr damit, dass er die
       Reaktoren jemals wieder benutzen wird - Salzwasser hat eine stark
       korrodierende Wirkung.
       
       Auch an einer weiteren Front kämpft Japan mit logistischen Problemen: Im
       Katastrophengebiet, das sich über eine Strecke von 250 Kilometer die
       Nordostküste hoch verteilt, werden ebenfalls Lebensmittel, Wasser, Benzin
       und alle Dinge des täglichen Bedarfs knapp. Viele Straßen in den Norden
       bleiben unpassierbar, die wichtigsten Häfen an der Küste sind unbenutzbar.
       Die über 600.000 Evakuierten sind daher nur mit Hubschraubern zu versorgen.
       
       Bisher konnte die japanische Armee zum Auftanken zum US-Flugzeugträger USS
       "Ronald Reagan" vor der Küste fliegen. Doch wegen einer leichten
       Verstrahlung setzte die US-Marine ihren Einsatz erst mal aus. Mehrere
       Crewmitglieder hatten eine Monatsdosis Strahlung abbekommen, offenbar aus
       einer Wolke, die von Fukushima aufs Meer getrieben war. Auch Helikopter,
       die bisher Hilfseinsätze in der schwer getroffenen Stadt Sendai geflogen
       hatten, durften vorerst nicht mehr starten. Die Piloten sollen besser vor
       Strahlung geschützt werden.
       
       14 Mar 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Martin Fritz
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
       
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