# taz.de -- Porträt Winfried Kretschmann: Moses kommt an
       
       > Nach 58 Jahren CDU-Herrschaft, nach 30 Jahren Opposition: Wer ist
       > Winfried Kretschmann? Ökolibertärer Staatsdiener. VfB-Fan. Oberschwabe.
       > Und Liebhaber von Froschkutteln.
       
 (IMG) Bild: Kretschmann lotet den Kurs aus. Jetzt geht's erstmal Richtung Ministerpräsident.
       
       STUTTGART taz | Am Tag nach dem Wahlsieg ist es in der Grünen-Zentrale in
       Berlin so voll wie zu Joschkas Fischers Zeiten nicht mehr. Der mutmaßlich
       erste grüne Ministerpräsident der Bundesrepublik Deutschland ist mit einem
       frühen Montagflieger aus Stuttgart eingeschwebt. Jetzt kommt er mit dem
       Tübinger Oberbürgermeister und Parteiratsmitglied Boris Palmer durch den
       Hintereingang. Smartphone am Ohr. Mit wem telefoniert er? Will er nicht
       sagen. Mit 24,2 Prozent haben die Grünen ihr Wahlergebnis in
       Baden-Württemberg mehr als verdoppelt, sie haben neun Wahlkreise gewonnen
       und mit den 23,1 Prozent der SPD eine Mehrheit von vier Sitzen gegenüber
       CDU/FDP.
       
       Wahnsinn? Winfried Kretschmann, 62, wirkt wie schon am Wahlabend: ernst,
       glücklich, aufgeräumt, gefasst. Vor allem gefasst. "Wir werden versuchen,
       dieses Land mit Besonnenheit, Maß und Mitte zu führen", sagt er im grünen
       Parteirat. Später auf der Pressekonferenz spricht er von einem neuen
       Politikstil und bereitet die Versöhnung vor mit jenem Teil der
       baden-württembergischen Bürger, die sich nun von Gott verlassen fühlen
       müssen. Sie kriegen nun Moses.
       
       Einmal hatte Kretschmann sich ja als Moses bezeichnet, der die Seinen ins
       gelobte Land führt, aber es selbst nicht mehr erreicht. "Moses bleibt nicht
       zurück", sagt in der Sonntagnacht der grüne Landtagsabgeordnete Franz
       Untersteller, "Moses führt uns in der Regierung an." Er ist 52 und gehört
       zu denen, die es nicht fassen können, dass sie das noch erleben. Und
       vibriert entsprechend. Es ist 18.40 Uhr, als Kretschmann zum ersten Mal auf
       der grünen Wahlparty am Stuttgarter Schlossplatz erscheint. Er hebt beide
       Hände Richtung Decke. Es ist bei ihm keine triumphale, eher eine demütige
       Geste.
       
       Kretschmann gehört zu denen, die die Grünen in Baden-Württemberg gegründet
       haben, der mit Unterbrechungen 30 Jahre Opposition gemacht hat, der mit
       ihnen nach 58 Jahren die CDU ablöst und sie nun als Ministerpräsident in
       die erste von den Grünen geführte Regierung eines Bundeslandes führt. Das
       heißt, nicht vorgreifen: "Das entscheidet das Parlament", sagt Kretschmann.
       
       ## "Ein katholischer Ethiklehrer", zischt jemand im Saal
       
       "Ein katholischer Ethiklehrer", zischt jemand im Saal. Kretschmann nach
       seinem Vorvorvorgänger als "grünen Erwin Teufel" zu bezeichnen ist der
       Versuch, ihn in alte Schemata einzureihen. Also: Kretschmann kommt aus
       Oberschwaben, lebt in Laiz, einem Stadtteil von Sigmaringen. Ist schon
       länger im Schützenverein als bei den Grünen, isst an Fasching Froschkutteln
       - die aber nicht aus Fröschen sind. Ist ein Naturbursche. Glaubt, dass die
       wahren Abenteuer im Kopf stattfinden. Ist VfB-Fan. Unterrichtete als
       Oberstudienrat bis 2002 auf einem Gymnasium in Sigmaringen Biologie, Chemie
       und eben Ethik.
       
       Aber Froschkutteln hin, Schützenverein her: Im politischen Sinne ist
       Kretschmann eben kein klassischer Konservativer, schon gar kein
       Alternativer oder Radikaler, sondern ein ökolibertärer Staatsdiener. Im
       Zentrum seines Denkens steht die Aufgabe, Wohlstand durch eine weniger
       energieintensive Wirtschaft zu bewahren. Mit dem alten Teufel und dessen
       Windenergiephobie hat das nichts zu tun. Eine der ersten drei Dinge, die
       Kretschmann voranbringen will, ist es, die Blockade der Windenergie im Land
       zu beenden.
       
       ## Cohn-Bendit: "Kretschmann ist identisch mit dem Land"
       
       "Kretschmann ist identisch mit dem Land Baden-Württemberg", sagt der
       Europachef der Grünen und Weggefährte Daniel Cohn-Bendit. Das ist als Lob
       gemeint. Zumindest in diesem Augenblick verkörpert er die fragile Balance
       zwischen dem Wunsch nach "Weiter so" und Veränderung. Er sei ein Mann, der
       "vorsichtig mit der Demokratie umgeht", sagt Cohn-Bendit.
       
       Das würde dem abgewählten Ministerpräsidenten Stefan Mappus derzeit sicher
       niemand nachrufen. Doch wie die Leute halt so sind: Genau diese Qualität
       wird Kretschmann schon bald um die Ohren gehauen werden, wenn der
       versprochene Umbau des Landes nicht so zügig vorankommt, wie sich das
       manche in der Nacht zum Montag vielleicht erträumt haben. Man darf ja nicht
       vergessen: Je breiter ein Grünen-Politiker die Gesellschaft hinter sich
       bringt, desto kritischer wird er in Teilen der eigenen Partei gesehen.
       
       Die Aufgabe ist nicht klein: Ämter und Ratsstuben im Land sind weitgehend
       in CDU-Hand. Kretschmann und sein künftiger Vizeministerpräsident und
       mutmaßlicher Finanzminister Nils Schmid müssen aus zwei sich ganz und gar
       nicht schätzenden Oppositionsparteien eine funktionsfähige Regierung
       machen, "auf Augenhöhe", wie Schmid nicht müde wird zu betonen. Dann sind
       da: der versprochene Volksentscheid zu Stuttgart 21; der Atomausstieg, der
       von Baden-Württemberg aus dynamisiert werden soll, dessen Atomstromanteil
       bei über 50 Prozent liegt; die schwierige Zukunft des Atom- und
       Kohlekonzerns EnBW. Kretschmann hat noch keine Lösungen, hat er im
       taz-Interview gesagt. Man könne "bei einem epochalen Wechsel doch nichts
       anderes erwarten, als dass man viele Lasten der Vorgänger übernimmt".
       
       ## Grün-Rot muss 1,5 Milliarden Euro einsparen
       
       Und dann muss Grün-Rot noch 1,5 Milliarden Euro einsparen und auch die
       Wirtschaftseliten des Landes überzeugen, die seit Jahr und Tag eins sind
       mit der Union in der Erkenntnis, dass der Gewinn wächst, je
       energieintensiver die Wirtschaft ist. Der grüne Energieexperte Franz
       Untersteller erzählt, wie er mit "dem Winfried" übers Land und durch Firmen
       zog, die alle nach einer Rahmenpolitik für grüne Produkte gerufen hätten.
       Dazu gehören bisher nicht die Wirtschaftsverbände und die großen Weltfirmen
       des Landes. Die Vorstellung, man könne energieeffizientere Autos bauen, wie
       es bei Kretschmann hie und da anklingt, lässt manche immer noch erschauern.
       Und seine Kampfansage an die "alten Monopole", die es mit der Ressourcen-
       und Energieoptimierung eher nicht haben, steht im Raum. Untersteller sagt,
       die Wirtschaft sei pragmatisch und orientiere sich bereits um.
       
       Es ist 22.40 Uhr am Sonntagabend, als Kretschmann ein zweites Mal auf der
       Wahlparty der Grünen am Stuttgarter Schlossplatz auftaucht. Diesmal hat er
       seine Frau Gerlinde, den SPD-Spitzenkandidaten Schmid und dessen Frau Tülay
       dabei. Kretschmann sagt wie immer, dass er mit Schmid gut könne und dass
       das mit der SPD schon hinhauen werde. "Und Nils, jetzt sagsch du au no ein
       paar nette Worte", sagt er dann. Und dann sagt Schmid, dass die Bürger
       entschieden hätten und Kretschmann Ministerpräsident werde. Die Leute
       skandieren: "Mappus weg!" Schmid lächelt und sagt, dass man das ja jetzt
       geschafft habe, dass es aber "auch Konflikte" geben werde auf dem Weg,
       Baden-Württemberg ins 21. Jahrhundert zu bringen.
       
       ## "Stuttgart 21 in den Orkus"
       
       Ein paar Meter entfernt ist am Schlossplatz die Wahlparty der
       Stuttgart-21-Gegner. Tausende sind da. Ihr Thema ist nicht Fukushima,
       sondern nach wie vor der geplante Tiefbahnhof. Sie geben Kretschmann den
       Auftrag, als Erstes "dieses verrückte Projekt", wie die Filmemacherin
       Sigrid Klausmann-Sittler es nennt, "in den Orkus zu schicken". Die Stimme
       des grünen Bundestagsabgeordneten und Verkehrsexperten Winfried Hermann
       dröhnt über den Platz. Er fordert einen "Bau- und Vergabestopp" am Bahnhof,
       sagt, dass die Bahnhofsgegner den "historischen Tag" für Baden-Württemberg
       möglich gemacht hätten. Wenn es das "neue Baden-Württemberg" geben wird,
       von dem auf Wahlplakaten der Grünen die Rede ist, so hat es sich
       tatsächlich am Stuttgarter Hauptbahnhof konstituiert. Stuttgart ist mit
       drei von vier direkt gewählten Landtagsabgeordneten und 34,5 Prozent (CDU
       31,5 Prozent) nun die grüne Hauptstadt Deutschlands.
       
       Bei der Wahlparty ist selbstverständlich auch "der Cem" zugegen, also
       Parteichef Cem Özdemir. Nach Gerüchten der politischen Gegner Kretschmanns
       lauere er hinter ihm, um die Regierung zu übernehmen. Tut er allerdings
       nicht. Jedenfalls nicht bis auf Weiteres. Kretschmann werde
       Ministerpräsident "für die nächsten fünf Jahre", ruft er. Die neue
       Verantwortung steht ihm ins Gesicht geschrieben, wie überhaupt einige im
       Saal ab 18.01 Uhr staatstragend schauen. Dass auf dem Männerklo auch Frauen
       zugange sind, ist die mit Abstand unbürgerlichste Aktion der Nacht. Immer
       wieder wird betont, dass "heute gefeiert" werde, aber Montag früh die
       Arbeit losgehe.
       
       ## Kretschmann dankt explizit den neuen Grünen-Wählern
       
       Seit dem Wahlsieg hat Kretschmann immer wieder speziell jenen Wählern
       gedankt, die zum ersten Mal Grüne gewählt haben. Das sind nicht nur
       klassische grün-rote Wechselwähler, sondern Bürger, die bis vor Kurzem
       "natürliche" CDU-Wähler waren. Mag sein, dass die Reaktorkatastrophe von
       Fukushima die entscheidenden Prozentpunkte gebracht hat und der emotionale
       Auslöser war, den Wechsel nun tatsächlich zu vollziehen. Es sei jedenfalls,
       sagt Kretschmann, "ein hoher Vertrauensvorschuss". Und in Berlin sagt er
       noch: "Ich bin in erster Linie meinem Land verpflichtet, dann meiner
       Partei, dann mir als Person." Ein Erwin-Teufel-Zitat. Ein Grüner, der in
       erster Linie seinem Land verpflichtet ist. Kretschmann hat das immer so
       gesehen. Nur hat es keiner mitgekriegt. Keine Frage: Hier beginnt etwas
       Neues, und einige Grüne werden es hassen.
       
       Aber andere werden aufmerksam. Kretschmann verkörpert in diesem Moment die
       Hoffnung auf eine neue Balance zwischen Regierung und Bürger, zwischen
       Sicherheit und Risiko, für die sich Baden-Württemberg entschieden hat. Es
       scheint die historische Aufgabe von Winfried Kretschmann zu sein, das Wort
       konservativ neu zu definieren.
       
       28 Mar 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Peter Unfried
       
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