# taz.de -- Autor Rafik Schami über syrischen Aufstand: "Schneller als die Geheimdienste"
       
       > Der syrische Exilschriftsteller und Bestsellerautor Rafik Schami über die
       > Situation in seiner alten Heimat, die unglaubwürdige Rolle der
       > Muslimbrüder und die politischen Fehler des Westens.
       
 (IMG) Bild: "Assad und seine Leute leben auf einem anderen Planeten."
       
       taz: Herr Schami, wer geht in Syrien auf die Straße? 
       
       Rafik Schami: Menschen, die es satthaben, seit vierzig, fünfzig Jahre
       entrechtet zu leben. Viele sind mit dem nackten Überleben beschäftigt,
       andere bringen Milliarden außer Landes. Die Menschen haben die Angst
       abgeschüttelt. Und dies, obwohl die Geheimdienste nach wie vor jeden
       entführen, foltern oder töten können, ohne eine Strafe fürchten zu müssen.
       
       Wer trägt die Revolte in Syrien, welche Rolle spielen die Islamisten? 
       
       Es ist ein spontaner Aufstand, ohne zentrale Führung oder Ideologie. Nicht
       einmal das Wort Palästina kam vor. Die Menschen kämpfen für Freiheit und
       Demokratie. Der Aufstand in Syrien überraschte auch die Muslimbrüder. Und
       erschreckte die Machthaber: Zwei Wochen verschwand Präsident Baschar
       al-Assad von der Bildfläche.
       
       Die Muslimbrüder bildeten in Syrien einmal eine sehr starke Opposition? 
       
       Ja, aber heute gelten sie als unglaubwürdig. Sie haben mehrfach die Seiten
       gewechselt. Waren sogar im Bündnis mit dem ehemaligen Vizepräsidenten Abdul
       Halim Khaddam, den al-Assad junior 2005 entlassen hat und der mit seinen
       geraubten Millionen heute in Paris lebt. Er war einer der korruptesten
       Funktionäre des Regimes, hat gegen Geld Giftmüll aus Europa illegal in der
       syrischen Wüste vergraben lassen. Die Muslimbrüder wollten sich auch
       insgeheim mit al-Assad aussöhnen, der sie damit aber öffentlich vorführte.
       Und jeder in Syrien weiß, dass sie Geld von Saudi-Arabien bekommen. Es sind
       unglaubliche Opportunisten.
       
       Der Aufstand in Syrien begann in der Provinzhauptstadt Daraa, warum gerade
       dort und nicht in Damaskus? 
       
       Die Revolte ging dort von einer Gruppe von zehnjährigen Kindern aus. Klingt
       unglaublich, ist aber wahr. Die Kinder schrieben mit Kreide und Sprayfarben
       Parolen gegen das Regime auf die Mauern. Ein Cousin von al-Assad ist Chef
       des Geheimdienstes in Daraa. Die Geheimdienste schlugen brutal zu. Das war
       den Menschen zu viel. Daraa war einst die Kornkammer des Römischen Reiches.
       Heute ist es heruntergewirtschaftet und bettelarm. Die Präsenz des
       Geheimdienstes in den Großstädten Damaskus, Aleppo, Homs, Hama und Latakia
       ist sehr groß. Doch auch dort rebellieren die Menschen, nachdem in Daraa
       die Geheimdienste in die Menge schossen, auf Kinder, auf Ärzte. Inzwischen
       sind die Namen von 103 Opfern bekannt, die für Freiheit und Demokratie
       stehen. Die Syrer riefen zuerst: "Aljom mafi Chof" (dt. etwa: "Wir haben
       keine Angst mehr"). Sie zerstörten das Assad-Denkmal in Daara und steckten
       drei Regierungsgebäude in Brand. Heute rufen sie: "Nieder mit dem
       Assad-Regime".
       
       Baschar al-Assad hat gerade eine neue Regierung gebildet, will er
       tatsächlich Reformen einleiten? 
       
       Er versucht Zeit zu schinden. Seine letzte Rede war komplett inhaltsleer.
       Sie könnte direkt aus den sechziger Jahren stammen. Er ließ sich nach dem
       Modell Ben Ali, Gaddafi, Mubarak oder Honecker umjubeln. Die
       Volkskammerabgeordneten sagten Gedichte zur Huldigung auf. Assad und seine
       Leute leben auf einem anderen Planeten.
       
       Al-Assad will immerhin die seit 1963 geltenden Notstandsgesetze aufheben? 
       
       Hat er aber bislang nicht. Seine Beraterin Bouthaina Shaaban sprach davon,
       wurde vom Geheimdienst wohl aber eines Besseren belehrt. Assad wollte auch
       nicht mehr auf Demonstranten schießen lassen. Eine Stunde nachdem er das
       sagte, wurde in Latakia, Hauptstadt der alevitischen Minderheit,
       geschossen.
       
       Was unterscheidet das syrische Regime von den gerade gestürzten in Tunesien
       oder Ägypten? 
       
       Bereits unter Hafiz al-Assad, der von 1966 bis 2000 Syrien regierte, gab es
       große Massaker. In Hama schätzt man die Toten auf 20 bis 30.000. In Palmyra
       wurden 1.500 Gefangene brutal erschossen. Oppositionelle wurden umgebracht,
       zehntausende verschwanden. Eine halbe Million Syrer leben heute im Exil.
       Hafiz al-Assad machte aus Syrien einen Polizeistaat. Der libanesische
       Bürgerkrieg hat die syrischen Machthaber geschult und das Regime erwies
       sich als sehr elastisch. Es wechselte je nach politischer Großwetterlage
       die Allianzen, kooperierte mit Russen oder Amerikanern gleichzeitig und
       unterstützte die Rebellen im Irak. Das Regime agiert gegenüber Israel
       zurückhaltend und spielt sich gleichzeitig als Befreier Palästinas mit der
       Hamas und als Beschützer des Libanons mit der Hisbollah auf. Es wird eine
       zähe Auseinandersetzung werden.
       
       Wie könnte ein Übergang zu einer mehr oder weniger demokratischen
       Staatsform in Syrien aussehen? 
       
       Wenn wir Glück haben und der Druck der Bevölkerung anhält, müsste es eine
       Übergangsregierung mit Persönlichkeiten aus dem gesamten Spektrum Syriens,
       auch dem der Assads, geben. Ein friedlicher Übergang hieße, auch die
       Fähigkeit und den Mut zum Verzeihen zu haben, allerdings ohne die
       begangenen Verbrechen zu vertuschen. Die Hand zur Versöhnung auszustrecken,
       das verlangt mehr Mut, als mit dem Gewehr zu kämpfen. Verbrechen müssen von
       unabhängigen Gerichten gesühnt werden. Aber niemand darf um sein Leben
       fürchten! Ich kann mich noch an eine syrische Gesellschaft erinnern, an die
       demokratische Phase 1954-1958. Eine Phase, in der alle nationalen und
       religiösen Gruppen friedlich miteinander lebten. Daran müssen wir
       anknüpfen. Das ist viel schwerer, als zu zerstören und Bürgerkrieg zu
       führen.
       
       Syrien ist neben Iran der wichtigste Player im Libanon, aber auch für die
       Dauerunruhen um Israel/Palästina mit verantwortlich. Müssen mit der Revolte
       in Syrien die angeblichen Volksbewegungen Hisbollah (im Libanon) und Hamas
       (in Palästina) nun auch um ihre Macht fürchten? 
       
       Es gehört alles zusammen: ein wirklicher Frieden zwischen Palästinensern
       und Israelis und die Veränderung im Libanon und in Syrien. Die Rückgabe der
       von Israel besetzten Golanhöhen, die Abschaffung der Mauer zwischen Israel
       und dem Westjordanland oder die Verschrottung der israelischen Atombomben -
       das alles kann friedlich gelöst werden, wenn es in der gesamten Region
       demokratisch gewählte Regierungen gibt.
       
       Herr Schami, Sie flohen 1971 von Damaskus nach Deutschland. Wie informiert
       man sich als Exilant über die Vorkommnisse in der alten Heimat? 
       
       Heute ist das kein Problem. Per Handy werden Bilder aus der Mitte einer
       Demo angefertigt und per Internet und Facebook verschickt. Syrer im In-
       oder Ausland können sich stündlich genau informieren. Hier liegt auch das
       Geheimnis der tunesischen und ägyptischen Revolution: Sie konnten nicht
       totgeschwiegen werden.
       
       Internet, Facebook, Twitter werden ja geradezu magische Kräfte
       zugeschrieben, welchen Anteil haben die globalisierten neuen Medien an der
       arabischen Revolte? 
       
       Sicher haben die Menschen den größten Anteil, mit ihrem heldenhaften Mut
       und mit nackten Händen Panzern entgegenzutreten. Aber: Die neuen Medien
       erwiesen sich als sehr effektiv und schneller als der große schwerfällige
       Apparat der Geheimdienste und der Polizeien.
       
       Also besteht eine reale Möglichkeit, dass auch in Syrien bald ein Epos wie
       Ihr Roman "Die dunkle Seite der Liebe" oberhalb des Ladentisches gehandelt
       wird? 
       
       Oh, das würde mich sehr freuen. An diesem Tag werde ich Sie zur Belohnung
       für die in Erfüllung gegangene Prophezeiung zu einem syrischen Essen
       einladen. Da können Sie sicher sein: Ich habe das Gedächtnis eines Kamels,
       das vergesse ich nicht.
       
       Sie haben in einem Gespräch gesagt, Syrien müsse seinen eigenen Weg des
       Übergangs finden. Welche Rolle werden dabei Leute wie Sie, das Exil,
       spielen? 
       
       Wir können den Revolutionären mehr Öffentlichkeit in der Welt verschaffen.
       Wir können helfen, dass man nicht in die Falle des Rassismus,
       Antisemitismus oder von Religionskriegen tappt. Wir können helfen, den
       Aufbau demokratisch zu gestalten. Außerdem: Viele Exil-Syrer sind sehr gut
       ausgebildet, in sehr unterschiedlichen Berufen.
       
       Herr Schami, Sie leben seit vierzig Jahren in der Bundesrepublik. Was muss
       sich eigentlich hier im Westen im Umgang mit den arabischen Staaten ändern? 
       
       Alles! Es ist eine Schande, dass demokratische Gesellschaften Raubgelder in
       Milliardenhöhe auf ihren Banken liegen haben. Gaddafi soll 150 Milliarden
       Dollar im Ausland liegen haben, Mubarak 80 Milliarden, der Assad-Clan 70
       Milliarden. Selbst Jemens Saleh bringt es noch auf 10 Milliarden. Und die
       saudische Königsfamilie soll allein in den USA mehr als 500 Milliarden
       US-Dollar und in der Schweiz 300 weitere Milliarden besitzen. Das ist doch
       obszön. Das sind Mafia-Gelder. Das muss ein Ende haben. Genauso wie die
       ganzen Waffengeschäfte mit den Diktatoren. Umgekehrt war es fast zu spät,
       als der Westen in Libyen jetzt endlich intervenierte.
       
       Das heißt, Sie sind für die militärische Unterstützung der libyschen
       Rebellen? 
       
       Solange man sich nicht auf dem Boden einmischt: Ja. Man durfte Bengasi und
       die Bevölkerung nicht Gaddafi überlassen. Die Position der schwarz-gelben
       Regierung, insbesondere die von Westerwelle, taugt für eine Karikatur von
       Tom in Ihrer Zeitung: Westerwelle sitzt im Sicherheitsrat und denkt an
       seinen Wahlkreis in Bonn. Aber so gewinnt man nicht einmal die nächsten
       Wahlen.
       
       4 Apr 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Fanizadeh
       
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