# taz.de -- Völkermord an den Armeniern: Der alte Mann vom Mosesberg
> Avedis Demirci ist der letzte Lebende, der bei den Aufständischen von
> Musa Dagh dabei war. In der Türkei jährt sich der Beginn des Völkermords
> an den Armeniern.
(IMG) Bild: Gebirge in Armenien: Blick auf den Ararat. Auf einem anderen Berg leisteten im Sommer 1915 die Armenier der Umgebung 53 Tage lang Widerstand.
VAKIFLI taz | Avedis Demirci blinzelt in der Sonne. "Meine Augen taugen
nicht mehr viel", beschwert er sich, "aber sonst bin ich ziemlich in
Ordnung." Demirci, den alle hier "Dede", "Großvater", nennen, ist 97 Jahre
alt. Mit seinem blauen Käppi auf dem Kopf und einer Decke um die Schultern
sitzt er an diesem kühlen Aprilmorgen auf der Terrasse seines Hauses und
kramt vergnügt in seinen Erinnerungen.
Mit Vorliebe erzählt er Geschichten wie diese: "Abdülhamid, der letzte
absolut herrschende Sultan des Osmanischen Reiches, ließ schon einmal 15
armenische Notable in unserem Nachbardorf an den Ästen des großen
Mosesbaumes aufhängen. Das war für den normal." Avedis Demirci ist heute
eine historische Figur. Sein Haus steht am Hang des Musa Dagh. Der
österreichische Schriftsteller Franz Werfel hat mit seinem 1933
erschienenen Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" dem Überlebenskampf der
Armenier auf diesem Berg ein Denkmal gesetzt. Als im April 1915 die
Deportationen und Massaker an den Armeniern des Osmanischen Reiches
begannen, war Demirci ein Baby. Seine Eltern trugen ihn auf das Plateau des
Berges, wo sich 4.500 Armenier aus den sechs Dörfern am Musa Dagh
verschanzt hatten, um sich ihrer Verschleppung zu widersetzen.
1930 bereiste der Prager Jude Franz Werfel gemeinsam mit seiner Frau Alma
Mahler Syrien, wo er Überlebende des Genozids traf. Angeregt von ihren
Schilderungen schrieb er "Die 40 Tage des Musa Dagh".
## Dermerci über den Roman "Die 40 Tage des Musa Dagh"
"Ich kann mich selbst natürlich nicht daran erinnern", sagt Demirci, aber
er hält Werfels Buch, verglichen mit den Erzählungen seiner Angehörigen,
für eine gute Beschreibung. Avedis Demirci ist der letzte Überlebende der
Aufständischen. Er lebt in Vakifli, dem heute einzigen noch komplett
armenischen Dorf in der Türkei. Vakifli, das früher Wakef hieß, ist eines
der sechs Dörfer, die sich damals zur Wehr setzten. Aus dramaturgischen
Gründen macht Werfel daraus sieben Dörfer und er zählt 40 Tage, obwohl es
53 Tage gedauert hatte, bevor die Armenier von einem französischen
Kriegsschiff gerettet wurden. In den anderen dieser Dörfer leben heute
hauptsächlich Turkmenen und alevitische Araber. Von Vakifli aus schaut man
auf der einen Seite auf das Mittelmeer und auf der anderen zu den grünen
Hängen des Musa Dagh empor. Das Dorf liegt unweit von Antakya, dem antiken
Antiochia in der Provinz Hatay, fast in Sichtweite der syrischen Grenze.
Die Orangen- und Zitronenbäume duften, gelber Ginster und Wacholder ziehen
sich die Hänge hoch. Der Berg prangt in leuchtenden Farben.
Avedis Demirci lebt mit seiner 77-jährigen Frau in seinem kleinen Haus.
Seine Söhne haben den Musa Dagh längst verlassen, zwei sind bereits
gestorben, einer lebt als bekannter Maler in Istanbul. Ein Bild, das der
Sohn gemalt hat, hängt im Zimmer. Es ist ein Porträt des Vaters, wie er mit
sprühendem Blick einen Fisch verspeist und dazu Raki trinkt. "Der Arzt",
sagt Avedis lächelnd, "hat mir den Raki verboten, aber manchmal trinke ich
einen kleinen Schluck. Danach bin ich gleich reif fürs Bett."
## Bewohner des Dorfes Vakifli sterben aus
Auch andere Bewohner klagen, dass sie im Dorf immer weniger werden. "Für
mich", erzählt Kuhar Kartun, "ist Vakifli der schönste Platz der Welt." Sie
sitzt mit ihrer Mutter vor der Kirche und sortiert Blütenblätter. Kartun
ist Küsterin der Kirche, die 1997 renoviert und teilweise neu aufgebaut
wurde. Voll wird die Kirche nur an wenigen Tagen. Die nur noch 30
armenischen Familien, zusammen 130 Menschen, füllen den Bau nicht, zumal
nur noch gelegentlich ein Priester aus Istanbul kommt. "Die jungen Leute
gehen wie aus allen Dörfern in die Stadt", meint Kartun, "bei uns kommt
hinzu, dass es hier keine armenische Schule gibt und viele Kinder nach
Istanbul aufs Internat geschickt werden. Oft bleiben sie dort oder gehen
weiter ins Ausland." Auch sie hat Verwandte in Deutschland und in Kanada.
## Fast alle verbliebenen Armenier leben in Istanbul
Seit dem Genozid leben fast alle in der Türkei verbliebenen Armenier in
Istanbul, rund 65.000 sind es gegenwärtig. Vakifli ist eine Ausnahme, die
mit dem damaligen Widerstand zusammenhängt. Die von den Franzosen
geretteten Armenier wurden ins ägyptische Port Said gebracht und dort
provisorisch in einem Lager untergebracht. Nach dem Sieg von Engländern und
Franzosen über das mit Deutschland und Österreich-Ungarn verbündete
Osmanische Reich kehrten die meisten Armenier zum Musa Dagh zurück, der
zunächst zum französischen Protektorat Syrien gehörte. Die endgültige
Vertreibung kam 1939. Die kurzzeitig als Republik Hatay von den Franzosen
unabhängig gewordene Provinz ging 1939 nach einer Volksabstimmung an die
Türkei. Die Armenier vom Musa Dagh mussten sich entscheiden, ob sie bleiben
oder in den von Frankreich kontrollierten Libanon umsiedeln wollten. "Fast
alle sind gegangen", bedauert Demirci. "Auch in Vakifli sind nur die Hälfte
geblieben."
Dieses Ereignis, an das er sich im Gegensatz zur Belagerung des Musa Dagh
erinnern kann, bezeichnet er als traurigste Erfahrung seines Lebens. "Wären
sie geblieben, hier ist doch unser Zuhause", sagt er mehrmals.
Dorfvorsteher Berc Kartun sieht es weniger sentimental. "Wir werden immer
weniger, aber warum? Es gibt keine Arbeit!" Vakifli hat es mit dem Anbau
von biologischem Gemüse und Orangen versucht. Sie ließen ihre Böden
untersuchen und bekamen ein Zertifikat von IMO, einer deutschen
Organisation, die ein Büro in Izmir betreibt. "Wir haben es vier Jahre
versucht", erzählt Kartun, "doch wir konnten kaum etwas damit verdienen.
Wir haben nicht genug Fläche, um im großen Maßstab anzubauen und zu
exportieren, und für die Märkte in der Umgebung lohnt sich ökologischer
Anbau nicht."
Berc Kartun hat heute den Veterinär des Bezirks, Cem Capar, zu Gast. Er ist
als Armenier für alle Dörfer auf dem Musa Dagh zuständig und erzählt, er
habe mit den Nachbarn nie Probleme. "Egal ob Turkmenen, Türken, Araber oder
Kurden, wir leben und arbeiten ohne Vorbehalte zusammen."
Das größte Dorf am Musa Dagh war vor der Vertreibung von 1915 Yogunoluk,
was auch der Hauptschauplatz in Werfels Roman ist. In keinem der sechs
Dörfer hat die Moderne so wenige Spuren hinterlassen wie hier. Die Gassen
sind so eng und steil, dass Esel die wichtigsten Transportmittel geblieben
sind. Die heutigen Bewohner sind ehemalige Nomaden, die in Yogunoluk
sesshaft geworden sind.
## Der Tourismus in Vakifli
Vakifli hat sich sehr viel mehr verändert. Die Verwandten aus Istanbul oder
aus dem Ausland haben in ihre Häuser investiert, drei alte Steinhäuser
wurden in schöne Gästehäuser umgebaut. Weil die wenigsten von der
Landwirtschaft leben können, wird der Tourismus mehr und mehr zur
Einnahmequelle. Gerade wird das Dorfcafé zu einem Restaurant ausgebaut. "Im
Sommer ist es hier völlig überlaufen", berichtet Kartun. Verwandte aus
aller Welt kommen dann, aber auch immer mehr Besucher, die das letzte
armenische Dorf der Türkei kennen lernen wollen, allen voran zu Surp
Asdvandzadzin, dem armenischen Weinfest im August. Sie sei erst jüngst in
Istanbul gewesen, um dort mit einer Delegation für die Region zu werben,
erzählt Kartun.
Avedis Demirci hingegen findet, dass sich Vakifli bereits etwas zu viel
verändert habe. Dauernd fahren Autos am Haus vorbei, auch die Besucher
werden ihm schon manchmal lästig. "Früher", erzählt er, "brauchten wir mit
unseren Pferden sechs Stunden über die Berge bis Antakya. Danach ging es
mühsam weiter bis Aleppo." Nur diese Abgeschiedenheit hat den Widerstand
vor knapp hundert Jahren möglich gemacht. Heute ist man mit dem Auto von
Antakya in einer halben Stunde im Dorf.
Am 24. April, wenn die Armenier in aller Welt der "großen Katastrophe"
gedenken, wird es das erste Mal in diesem Jahr wieder voll in Vakifli.
20 Apr 2011
## AUTOREN
(DIR) Jürgen Gottschlich
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